An dieser Stelle finden sich Geschichten und Erzählungen aus und über Rudow. Zwischenmenschliches, Erlebtes und Vergangenes geben einen Einblick in diesen schönen Stadtteil von Berlin und seine vielseitigen Mitbürger*innen.
Wir wünschen angenehme Kurzweil beim Lesen!
Inhaltsverzeichnis
- Westgold / Christel Jachan
- Heinrich Stahl / Karen-Kristina Bloch-Thieß
- Gedanklicher Spaziergang in einer Stadtbücherei / Karen-Kristina Bloch-Thieß
- Meine Rudower "Wandergruppe“ / Sunmi Jin
- Relaxen in Rudow / Karen-Kristina Bloch-Thieß
- Ein wunderschönes Naturereignis / Hans Gottsmann
- Rudow und die Neukölln-Mittenwalder Eisenbahn/ Dr.Britze
- Zum Alten Krug/ Heidi Sandner
- -Bauer Mendler und das Streifenhörnchen/ Felix P.G.
- Zwei kuriose Erfahrungen in Rudow/ Rita Göritz
- „Wir ziehen nach Rudow...nach Rudow???“ / K.P.
- Auch das gab es in Rudow weiß Heide Binner
- Heinz Wendt erinnert sich
- Rudow, ein liebevoller Blick auf einen kleinen Ortsteil von Neukölln/ Karen-Kristina Bloch-Thieß
- Bolle reiste jüngst zu Pfingsten … nicht Bolle, sondern ich „reiste“ nach Rudow/ P.G.
- Ein Kürbis ist halt auch nur ein Kürbis oder die Wünsche eines Rudower Kürbis zu Halloween/ Karen-Kristina Bloch-Thieß
- Der Schiefe Turm von Pisa Rudow oder aller guten Ding sind drei/ P.G.
- Der Grenzstreifen/ Heide Binner
- Beziehungen zu Rudow/ Hans-Georg Miethke
- Rudow meine Heimat/ Harriet W.
- Parkplatz der Dramen/ Ella Lane
- Rudow, meine Heimat!/ Viola S.-W.
- Umzug nach Rudow/ Rita Göritz
- Geschichte über eine besondere Rudowerin - Frau Christa Marten oder Änderung meines Blickwinkels/Heide Binner
Westgold
Rudow – das war einmal eine ländliche Gegend am südöstlichen Stadtrand von Berlin-West.
Es gab Felder, Kleingärten, Gärtnereien und Sickergruben. Seit 1961 endeten alle über die Stadtgrenze aus Rudow hinausführenden Straßen an der weltberühmten Mauer. Seit 1963 gab es an der Walterdorfer Chaussee ein Loch in der Mauer – eine Grenzübergangsstelle, die nur für den Transit zum Flughafen Schönefeld und für die Einreise von Westberlinern in die „DDR“ diente.
Die Grundstückspreise in Rudow waren weitaus niedriger als in anderen Vorortlagen. Es gab Industrie-Arbeitsplätze bei Eternit. Wer im Grünen wohnen wollte, aber wenig Geld hatte, baute sein Haus in Rudow. Es siedelten sich auch einige Banken an. Die Post erweiterte ihr Angebot um die Postbank und zog vom alten Postamt in der Neuköllner Straße, die nun Alt-Rudow hieß, in neue, größere Räume an der Prierosser Straße um. Sogar die U-Bahn fährt seit 1972 bis nach Rudow.
Vieles hat sich verändert, das Postamt mit der Bank in der Prierosser Straße gibt es nicht mehr.
Die größte Herausforderung in seiner Geschichte kam für das Postamt und die anderen Banken im Westteil Berlins, die auch in Rudow zahlreich vorhanden waren, nach dem 9. November 1989. Der Grenzübergang Waltersdorfer Chaussee war über Nacht zur Ausreisestelle aus dem real existierenden Sozialismus ins kapitalistische Wunderland geworden. In Scharen strömten Trabbis mit „DDR“ Kennzeichen, aber auch Menschen auf Schusters Rappen, über die Waltersdorfer Chaussee nach Berlin-West, wo sie von den Rudowern begeistert empfangen wurden. Lange Schlangen und Trauben von „DDR“ Bürgern (von Bürgerinnen sprach man damals selten, da sie im Begriff Bürger inkludiert waren) standen vor allen Banken, füllten die Bürgersteige und Teile der Fahrbahn. So standen sie auch geduldig wartend in der Prierosser und Köpenicker Straße, um am Postschalter ihr Begrüßungsgeld von 100 DM pro Person entgegenzunehmen. Unter ihnen waren auch viele Kinder, denn das Vertrauen der Eltern in den Staat reichte nicht aus, die Kinder in den Kindereinrichtungen oder den Schulen in der “DDR“ zurückzulassen, um selbst die Vorzüge des Kapitalismus zu genießen. So kamen meist ganze Familien, die dann auch abends wieder bepackt heim in die „DDR“ gingen. Die kleinen „DDR“-Bürgerlein kannten sich mit Schlangestehen aus, aber es machte ihnen in der kalten Novemberluft natürlich keinen Spaß. Dennoch hielten sie wacker durch, denn die Eltern schwärmten ihnen vor, wie viel Lego oder ferngesteuerte Autos man für 100 DM kaufen konnte.
Eine Frau, die offensichtlich nicht dazugehörte, tauchte auf. Sie hatte struppiges Haar und trug billige Westklamotten. Sie hatte zwei große Plastiktüten und eine Schere bei sich. Mit der Schere durchtrennte sie die kleinen Plastiknetze, die sich in den Tüten befanden. Es waren zu viele Kinder, als dass jedes ein eigenes Netz mit Goldtalern hätte bekommen können. Dann begann sie, die Goldtaler an die Kinder zu verteilen. Echtes Gold war es natürlich nicht. Es waren in goldfarbene Alufolie verpackte Kautaler, die sie im Discount gekauft hatte, weil sie sich immer gut eigneten für das Füllen der Nikolausstiefel der eigenen Kinder und für das Verteilen in Schulklassen. Sogar für die Faschingskostümierung als Goldmarie waren sie geeignet. Nun bekamen sie also die Kinder in der Begrüßungsgeldschlange vor der Post – als eigenes Begrüßungsgeld sozusagen. Sie freuten sich und waren eine Weile damit beschäftigt, die Aluhüllen vom süßen Kaubonboninhalt zu entfernen. Manche nahmen die Hüllen mit als Souvenir, andere ließen sie auf den Bürgersteig fallen. Die Taler versüßten den Kindern die Wartezeit. Vielleicht wurde dem einen oder anderen schon damals klar, dass manches, das als Gold daherkommt, sich hinterher nur als Kaumasse herausstellt, die am Ende an den Zähnen klebt.
Dieser Text wurde am 7. Juni 2023 im Garten der Gertrud-Haß- Bibliothek anlässlich der Veranstaltung „Rudow liest vor – 650 Jahre Rudow“, vorgelesen
Christel Jachan
Heinrich Stahl
Ungemütlich ist es. Ich wickele meinen Schal enger und kippe den Mantelkragen hoch. Der leise Nieselregen schlägt in Schneeregen um. Der Himmel ist grau und bewölkt. Trotzdem mache ich einen kleinen Spaziergang durch Rudow.
Vor dem Haus Alt Rudow 43 bleibe ich plötzlich stehen. Obwohl ich hier bestimmt schon 100 mal vorbeigekommen bin, ist mir die blaue Gedenktafel noch nie aufgefallen
Wer war Heinrich Stahl? Ein Deutscher, der plötzlich kein Deutscher mehr sein durfte? Mal wieder fällt mir auf, in welch glücklichen Zeiten ich doch bisher gelebt habe.
Der Name lässt mich nicht los. Ich will mehr über Heinrich Stahl erfahren.
Doch da fängt es schon an. Das Geburtsjahr 1886 stimmt nicht. Heinrich Stahl wurde am 13.4.1868 geboren. Auch das zweite Datum ist falsch. Stahl war Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde bis 1940. Ich finde das traurig. Da will man einem Menschen gedenken, ihn würdigen und ist nicht in der Lage korrekte Daten anzugeben. Oder zumindest den Irrtum zu korrigieren.
Ich forsche weiter und stelle fest, es handelt sich auch nicht um das tatsächliche Geburtshaus. Der Eigentümer des richtigen Grundstücks befürchtete antisemitische Anschläge und gab daher nicht die Einwilligung zur Anbringung der Tafel.
Heinrich Stahl wurde also am 13.4.1868 in Berlin Rudow geboren. Seine Eltern werden sich gefreut haben, ein Stammhalter. Vater war der Landwirt Israel Stahl. Und wie nach jüdischem Recht und Glauben üblich, wurde er 8 Tage nach der Geburt beschnitten. Der Eintritt in die jüdische Gemeinschaft war vollzogen.
Ein Berliner war der kleine Heinrich bei seiner Geburt nicht. Bis 1920 gehörte Rudow zum Kreis Teltow in der preußischen Provinz Brandenburg.
Wie weit seine jüdische Erziehung ging, wissen wir nicht. Wir wissen auch nicht, welche Schule er besuchte. Die Alte Dorfschule Rudow wurde erst 1890 erbaut. Da war er schon 22 Jahre alt.
Verbürgt ist, dass er eine kaufmännische Laufbahn einschlug und langjähriger Direktor der Viktoria-Versicherung war.
1930 leitete er das Wohlfahrtsamt und im Rahmen dieser Aufgabe kümmerte er sich um die Altersheime in der Gemeinde. Stahl war ein aktiver Mensch, er wurde Mitglied in der Berliner Freimaurerloge und ließ sich in die Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin wählen.
Am 23.6.1933 wurde er Vorsitzender des Gemeindevorstandes, dieser wird aus den Haushaltsvorständen jüdischer Familien am Ort und auf Zeit gewählt. In dieser Funktion wurde er der oberste Repräsentant der jüdischen Gemeinde von Berlin.
Bald nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, setzten die ersten Maßnahmen zur Verdrängung jüdischer Bürger aus dem öffentlichen Leben ein. Schon am 1.4.1933 mündeten die Gewalttätigkeiten seitens der SA in einen offiziellen Judenboykott.
So gründete Stahl gleich im ersten Jahr seiner Amtszeit die Jüdische Winterhilfe.
Von 1933 bis 1939 war er Mitglied der Reichsvertretung der Deutschen Juden und von 1939 bis 1942 hatte Heinrich Stahl den Vorsitz der Reichsvertretung der Juden in Deutschland inne. Präsident war Leo Baeck.
Die Reichsvertretung der Deutschen Juden war eine Vertretung der Juden in Deutschland mit Sitz in Berlin und sollte die Interessen der Juden in Deutschland durchsetzen.
1939 wurde sie dem Reichssicherheitshauptamt unterstellt, gegründet von Heinrich Himmler, dem Reichsführer der SS. Die Reichsvertretung der Deutschen Juden wurde 1943 aufgelöst und die letzten Funktionäre deportiert.
Bedingt durch das schlechte Verhältnis zu Leo Baeck wurde Stahl vom Gemeindevorsitz abgelöst. Er lebte fortan zurückgezogen in Berlin.
Am 11.6.1942 wurde Heinrich Stahl zusammen mit seiner Ehefrau Jenny in das Ghetto Theresienstadt deportiert.
Ursprünglich war Theresienstadt (Terezin) eine Garnisonsstadt im Nordwesten Tschechiens.
Das sogenannte Ghetto Theresienstadt war im November 1941 errichtet worden und galt zu Propagandazwecken als Vorzeigeghetto. Es gab einen Judenrat (Ältestenrat) zu dessen stellvertretendem Vorsitzenden Heinrich Stahl im Oktober 1942 gewählt wurde. Mitglied im Ältestenrat war Leo Baeck. Doch bereits am 4.11.1942 starb Heinrich Stahl an einer Lungenentzündung, lt. Totenschein an Herzschwäche.
Im Ghetto Theresienstadt breiteten sich etliche Krankheiten und Seuchen aus. Grund waren die Überfüllung, die hygienischen Verhältnisse, sowie die extreme Unterernährung. Allein 1942 starben 15.891 Menschen.
Insgesamt kamen 35.440 Juden ums Leben und etwa 88.000 wurden von dort in die Vernichtungslager deportiert. Insgesamt wurden 155.000 Juden durch Theresienstadt geschleust.
Die Berliner Gedenktafel wurde 1954 auf Initiative von Heinz Galinski angebracht und der nach Stahl benannte Heinrich-Stahl-Preis ins Leben gerufen. Heinz Galinski war von 1949 bis 1992 Vorsitzender der jüdischen Gemeinde zu Berlin. Der Preis wird in unregelmäßigen Abständen verliehen, zuletzt 2004 und 2010. In der Regel erfolgt die Verleihung an einem 19. April, dem Tag der Wiederkehr des Aufstandes im Warschauer Ghetto.
Autorin: Karen-Kristina Bloch-Thieß
Quellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Stahl_(Gemeindevorstand)
https://de.wikipedia.org/wiki/Leo_Baeck
https://www.yadvashem.org/de/holocaust/about/ghettos/theresienstadt.html
Gedenktafel im Saal der Jüdischen Gemeinde zu Berlin
taz – die Tageszeitung vom 23.4.1993
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Gedanklicher Spaziergang in einer Stadtbücherei
Es ist lange her, dass ich in einer Stadtbücherei war. Sehr lange! Ich war wohl 16, ohne jegliches Selbstbewusstsein, als ich eine 2jährige Anlernzeit in einer Stadtbücherei begann.
Ich habe immer Bücher geliebt. Erst die, aus denen mir meiner Mutter vorlas und später die, die ich mir selber aussuchte. Wo? Natürlich in der Stadtbücherei Charlottenburg. Dort, wo ich etliche Jahre später eine Anlernzeit begann.
Anspruchsvoll war die Arbeit nicht. Ich musste das ABC kennen und durfte Bücher alphabetisch ins Regal stellen. Durfte von Lesern die ausgeliehenen Bücher entgegennehmen und überprüfen, ob diese auch pünktlich abgegeben wurden.
Ich hatte Glück. Nach einiger Zeit wechselte ich von der Ausleihe in den Buchzugang. Das war abwechslungsreicher. Ich hatte Kontakt mit Buchhändlern, schickte die Buchbestellungen raus und überprüfte die Richtigkeit der Lieferungen.
Mein Privatleben änderte sich. Ich musste für meine Tochter und mich allein aufkommen und sah mich innerhalb des Öffentlichen Dienstes nach einer höher dotierten Stelle um.
Merkwürdig, seit ich nicht mehr in der Stadtbücherei Charlottenburg arbeitete, habe ich keine Stadtbücherei mehr betreten. Nicht dass ich aufgehört hätte zu lesen – der Umfang meiner Bücherregale erzählt das Gegenteil.
Nun sitze ich hier in einer kleinen, modernen Stadtbücherei in Rudow, in einem Schreibcafé. Über Rudow soll ich etwas schreiben. 650 Jahre wird Rudow, ein Ortsteil im Bezirk Neukölln, alt. Das soll gefeiert werden.
1373 wird Rudow erstmals urkundlich erwähnt. Es war ein Straßendorf, das über zwei Parallelstraßen verfügte. Hierbei soll es sich um die heutigen Straßen Alt Rudow und Prierosser Str. handeln.
Wer wohnte damals in Rudow? Vermutlich in der Hauptsache Bauern. Was würde einer dieser Bauern sagen, könnte er noch einmal seine alte Heimat besuchen? Nein, diesen Gedankengang kann ich nicht weiter verfolgen. Nichts würde ihn an früher erinnern. Eine andere Welt, eine andere Kultur. Der Lärm, der Krach, die Hektik des Straßenverkehrs. Es würde ihn überfordern. Also lassen wir ihn dort, wo er bisher war.
Rudow ist kein Dorf mehr. Eine Kleinstadt? Es ist ein Ortsteil eines Bezirkes einer großen Stadt.
Ich wohne gern hier, am Fuße der Rudower Höhe. Ein beliebtes Ausflugsziel, 70 Meter hoch, ein Trümmerberg, der auch den Schutt und Aushub des U-Bahnbaus beherbergt.
Es lässt sich trefflich in Rudow wohnen. Viel, viel Grün, es gibt Kultur, allerlei Geschäfte, sogar einen Bauernhof, eine gute Verkehrsanbindung und seit einiger Zeit sogar eine neue Stadtbücherei.
Autorin: Karen-Kristina Bloch-Thieß
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Meine Rudower "Wandergruppe“
Seit drei Jahren arbeite ich als Bibliotheksleiterin in Rudow. Aber mit Rudow bin ich eigentlich viel länger verbunden.
Winter 2011
Ein Freund aus NRW besuchte mich in Berlin, ich wollte ihn so weit wie möglich nach Hause zurückbegleiten. Also fuhr ich mit ihm bis nach Werder, so weit wie ich mit meinem Studentenausweis kostenlos fahren konnte. Ich stieg in Werder aus und er fuhr weiter.
Ich suchte gleich den schönen blauen See, den ich im Zug kurz vor dem Aussteigen gesehen hatte. Es war eiskalt und ich hatte Hunger. Also ich brauchte ein schönes Café, ein Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen, um meine Laune wieder retten zu können.
Links und rechts war nichts zu finden. Der Bahnhof sah so hässlich, grau, zerfallen oder verlassen aus. Auf dem Vorplatz des Bahnhofs sah ich eine Gruppe von Senioren, die auf eine Stadtkarte zeigten. Ich ging zu ihr, fragte, wo der See sein könnte. Gefühlt 20 Senioren zeigten mir den Weg, der See sei hinter dem grausamen Parkhaus ohne Autos.
„Okay, wenn der See so schön ist, müsste es dort auch ein Café geben“. – dachte ich zumindest.
Tapfer ging ich los. Zwischen dem Parkhaus und dem Schiffbauer trat ich ganz misstrauisch ein. Der Weg sah eindeutig nicht nach einer Seepromenade aus.
Ich guckte nach hinten. Die Seniorengruppe lief hinter mir. Also ich müsste auf dem richtigen Weg sein. Die Gruppe näherte sich. Wir sprachen kurz miteinander. Sie wollten nach links. Ich sagte, ich gehe nach rechts, da war eine schöne Allee. Wir sagten Tschüss und gingen unserer Wege.
Die Allee war wunderschön, aber es gab noch immer kein Café. Ich lief weiter, weiter und sah eine laute, gut gelaunte, Menschenmasse – wieder die Seniorengruppe.
Sie begrüßten mich zum dritten Mal ganz herzlich, fanden witzig, dass wir uns wiedergesehen hatten. Ein älterer Herr holte aus seinem Rucksack eine alte DDR- Karte heraus, -auf der Westberlin ausgeblendet war- auf der Straße faltete er sie auf und zeigte mir mit seinem Finger. „Hier sind wir und dahin gehen wir. Das sind 13 Kilometer. Möchten Sie mitlaufen?“
Ich sagte ja. Verrückt.
Mama sagte doch, ich solle keinem unbekannten Menschen folgen. Ich folge jetzt einer ganzen Menge ungekannter Menschen. Die Erziehung war wohl erfolglos.
So lief ich mit ca. 14 Senioren zusammen von Werder nach Marquardt.
Sie versorgten mich mit viel selbstgebackenem Kuchen und Schnaps, den ich nicht trinken konnte. Auf dem Weg lernte ich sie kennen. Sie sind eine Wandergruppe aus Rudow, wohnen mehr oder weniger alle in der Wutzkyallee und wandern einmal im Monat regelmäßig.
Sie waren sehr begeistert, dass ich so einfach ihre Wanderung mitmache. Ich war auch begeistert, dass sie so offen zu mir waren. Im Nachhinein habe ich von ihnen gehört, hier gebe es keine Cafés und sonntags haben sowieso keine Läden auf.
Nach der Wanderung gingen wir gemeinsam essen, wir haben unsere Telefonnummern ausgetauscht. Sie haben mich als jüngste Teilnehmerin der Wandergruppe aufgenommen. Nach ein paar Wanderungen wurden sie meine Wanderomis und -opis und ich wurde ihre Wanderenkelin, die für Pause sorgt.
So sind über 10 Jahre rasch vergangen. Einmal im Monat sind wir durch Berlin und Brandenburg gewandert, mal kurze und mal lange Strecke. Nun sind wir alle etwas älter geworden, auch ich bin älter geworden. Ich bin nicht mehr Anfang 20, keine Studienanfängerin, sondern ich bin eine Bibliotheksleiterin geworden.
Aber ich bin zu meiner Gruppe nach Rudow gekommen, so sehen wir uns öfter. Einfach auf der Straße oder in der U-Bahn oder in der Bibliothek. Ich bedanke mich herzlich für die letzten Wanderjahre, in denen sie mir alles gezeigt und beigebracht haben. Jeder Tag mit der Wandergruppe war schön.
Autorin: Sunmi Jin
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Relaxen in Rudow
Es ist Spätsommer. Die große Hitze ist vorbei und man kann langsam aufatmen. Ich habe meinen gemütlichen Gartenstuhl auf die Terrasse gestellt und auf dem Tisch steht eine Tasse mit dampfendem Kaffee.
Ich wohne in Rudow, im Komponistenviertel. Um mich herum Einfamilienhäuser mit Gärten. Viel Grün gibt es. Es wohnt sich hier schön und ich genieße die Ruhe um mich herum.
Noch! Denn gerade beginnt mein Nachbar, seinen Rasen zu mähen. Sein Gras muss schneller wachsen als unseres. Fast jeden 2. Tag wird sein Rasen gemäht.
Ich will eigentlich über das Buch, das ich gerade gelesen habe nachdenken, es noch einmal an mir vorbeiziehen lassen:
Andrea Wulf, Fabelhafte Rebellen
Ich habe es ausgesprochen gern gelesen. Fast überfällt mich eine sentimentale Traurigkeit, dass es zu Ende ist.
Das Buch hat mich nach Jena geführt, einige Jahrhunderte zurück. Zurück in die Jahre 1794 bis 1806.
In der Ferne bellt ein Hund. Ich werde aus meinen Gedanken herausgerissen. Ist das der Hund von gegenüber? Ich fürchte mich immer etwas vor ihm. Das Bellen ebbt ab.
Die Jahre 1794 bis 1806 waren Zeiten hoher Kreativität, großer geistiger Freiheiten. Hier in Jena traf eine Gruppe von Intellektuellen, Künstlern, Dichtern und Philosophen zusammen. Sie waren fast alle jung und wollten – wie junge Menschen überall – die Welt verbessern.
Johann Gottlieb Fichte entdeckte das ICH und zog mit seiner Philosophie Studenten von weither an die Universität.
Meine Nachbarin hat sich jetzt in ihren Garten gesetzt. Wie immer, mit ihrem Handy am Ohr. Sie telefoniert mit ihrer Mutter. Nicht, dass ich zuhören möchte, aber ich kann nicht anders. Sie hat so eine laute Stimme. Aber da sie mit ihrer Mutter spricht, wird sie nicht lange telefonieren. Das weiß ich aus Erfahrung. Und richtig, es dauert nicht lange und ich kann wieder meinen Gedanken folgen.
Goethe und Schiller beginnen hier ihre lebenslange Freundschaft.
1796 ziehen Schlegels nach Jena. August Wilhelm und Caroline Schlegel. Gemeinsam übersetzten sie Shakespeare. Herausgegeben wir jedoch alles unter seinem Namen. Mit im Gepäck ist der Bruder Friedrich. Auch er liebt Caroline. Mit der ehelichen Treue wird es nicht so genau genommen.
Novalis gehört zum Freundeskreis, die Brüder Humboldt, Friedrich Wilhelm Schelling nahm sich eine Wohnung außerhalb Jenas. Friedrich Schlegel holte seine spätere Frau Dorothea Mendelssohn-Veit-Schlegel samt ihrem Sohn nach.
Mein Nachbar hört auf zu mähen. Die plötzliche Ruhe unterbricht meinen Gedankengang. Kann Ruhe auch laut sein?
Unbedingter Mittelpunkt dieses Freundeskreises war Caroline Schlegel.
Nicht nur die Gedanken waren frei, auch die moralischen Zwänge lockerten sich. Nie hatte es in Jena mehr uneheliche Kinder gegeben, als zu jener Zeit.
Der Hund bellt wieder. Ob er allein Zuhause ist? Sein Herrchen ist noch recht jung und vielleicht noch auf der Arbeit.
Ich denke wieder über mein Buch nach.
Auch wenn sie noch so gebildet, in ihren Ansichten frei und aufgeklärt waren, hielten sie es für eine Zumutung, dass sie Christiane Vulpius würden grüßen müssen, weil von Goethe sie geheiratet hatte.
Nach und nach zerbrachen die Freund- und Liebschaften. Neid, Missgunst und Eifersucht schlichen sich ein, all die ganzen normalen menschlichen Eigenschaften.
Ich werde müde. Meine Augen fallen zu. Für einen Moment ist Rudow völlig ruhig, mich überfällt eine bleierne Müdigkeit und ich schlafe einfach ein.
Autorin: Karen-Kristina Bloch-Thieß
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Rudow und die Neukölln-Mittenwalder Eisenbahn
Mit dem Bau und der Inbetriebnahme der Rixdorf-Mittenwalder Eisenbahn (RME) am 28. September 1900 wurde auch Rudow für den Personen- und Güterverkehr eisenbahnmäßig erschlossen.
Die neu erbaute rund 27 km lange Strecke von Mittenwalde nach Rixdorf bei Berlin führte von Mittenwalde Nord über Brusendorf, Groß Kienitz, Selchow, Schönefeld, Rudow, Buckow und Britz zum Bahnhof Hermannstraße, wo die Reisenden in die Ringbahn umsteigen konnten und damit die Möglichkeit hatten, schnell und komfortabel Berlin zu erreichen.
Damit war auch Rudow Nutznießer des Eisenbahnbauprojektes, mit dem die Kreisstadt Mittenwalde eisenbahntechnisch an die aufstrebende Metropole Berlin angeschlossen worden ist. Im ersten Betriebsjahr fuhren in jeder Richtung täglich vier gemischte Züge mit Güter- und Personenwagen. Die Zahl der beförderten Personen lag in den folgenden Betriebsjahren bei ca. 100.000 pro Jahr.
Der Bahnhof Rudow entstand an der Großziethener Chaussee östlich vom Ortskern Rudow. Er hatte neben dem durchgehenden Hauptgleis mit Bahnsteig vier weitere Gleise. Auf der östlichen Seite befand sich die Freiladestraße, die mit zwei Gleisen erschlossen wurde; auf der westlichen Seite gab es zwei Rangiergleise, von denen eins zu einer Laderampe führte. Teile der Bahnhofsgebäude sind noch heute erhalten und in den Pflanzenmarkt Rudow integriert.
In den Jahren 1900 bis 1906 wurde der Teltowkanal gebaut. In den folgenden Jahren entwickelten sich Gewerbegebiete entlang des Teltowkanals. Vom Hafen Tempelhof bis zur Kanalstraße in Rudow entstand ein Netz von Zuführungs- und Anschlussgleisen, mit dem die neuen Gewerbegebiete über die RME eisenbahnseitig erschlossen worden sind.
Der Umbenennung von Rixdorf in Neukölln im Jahr 1912 folgend, wurde die Rixdorf-Mittenwalder Eisenbahn (RME) in Neukölln-Mittenwalder Eisenbahn (NME) umbenannt.
Der Sommerfahrplan 1927 der NME enthält eine Kurzbeschreibung der Orte entlang der Strecke. Hier ist zu Rudow vermerkt: „Rudow ist ein Dorf geblieben, und doch schon Groß-Berlin, interessiert außer durch die Kirche, durch das Gutshaus, das Jagdschloss und die jetzt allerdings leider fast völlig verschwundenen Rudower Wiesen, die eine Fundgrube botanischer Seltenheiten waren.“
Um die Nutzung der Bahn für den Personenverkehr attraktiver zu gestalten, wurden 1937 zusätzlich die Haltepunkte Rudow-Süd an der Stadtgrenze und Rudow-West nördlich des Zwickauer Damms eingerichtet.
Im Rahmen der Blockade Berlins wurde am 26. Oktober 1948 die Strecke nach Mittenwalde unmittelbar hinter der Stadtgrenze Berlins unterbrochen. Der auf dem West-Berliner Streckenteil verbliebene Personenverkehr von Rudow bis zum Bahnhof Hermannstraße wurde 1955 wegen Unwirtschaftlichkeit eingestellt.
1963 wurde am Teltowkanal das Heizkraftwerk Rudow gebaut, um die neu entstandene Gropiusstadt mit Wärme zu versorgen. Die Kohletransporte zum Kraftwerk Rudow führten mit ca. 350.000 Tonnen pro Jahr zu einer erheblichen Belebung der Verkehre auf dem nördlichen Teil der Hauptstrecke der NME bis zum Zwickauer Damm, weiter dann auf den Gleisen im Zwickauer Damm und in der Stubenrauchstraße bis hin zum Teltowkanal. Bis zur Schließung des Kraftwerks in 2011 bildeten die Kohletransporte zum Heizkraftwerk Rudow ein wesentliches Standbein für den Güterverkehr der NME.
1976 entstand kurz vor dem Kraftwerk ein Tanklager mit Wasser- und Gleisanschluss. Auch die Versorgung dieses Tanklagers führte in den Folgejahren zu einem nennenswerten Anstieg des Transportaufkommens bei der NME.
Im Gegensatz zu dieser positiven Entwicklung des Güterverkehrs auf der NME haben die Gleisanschlüsse in der Kanalstraße für das dort angesiedelte Gewerbe zunehmend an Bedeutung verloren und sind aus wirtschaftlichen Gründen im Jahr 2009 stillgelegt und 2011 zurückgebaut worden. Heute ist das Tanklager Rudow mit seinem Gleisanschluss der einzige verbliebene Eisenbahnkunde in Rudow.
Bereits Ende 1982 wurden der Bahnhof Rudow und das südliche Teilstück des Hauptgleises der NME vom Zwickauer Damm bis zur Stadtgrenze stillgelegt und später zurückgebaut. Zuletzt wurden auf dem Bahnhof Rudow nur noch wenige Wagen pro Jahr zugestellt. Ein wirtschaftlicher Betrieb war angesichts dieses geringen Verkehrsaufkommens nicht mehr möglich.
Dr. Britze
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Zum Alten Krug
Die älteste in Rudow erwähnte gastronomische Einrichtung ist wohl der Dorfkrug. Eigentlich heißt es „Zum alten Krug“ aber umgangssprachlich geht man halt in den Dorfkrug. Er ist vermutlich älter als die Dorfkirche.
Der Krug wurde erstmals im Landbuch von 1375 genannt, jedoch ohne Standortangabe. Seit 1749 befindet er sich an heutiger Stelle im Zentrum von Rudow. Ein Brand bis auf die Grundmauern bereitete im Jahre 1799 sein vorläufiges Ende. Aber schon 1802 erfolgte der Wiederaufbau durch Christian Mette. Somit ist der Krug die älteste nachweisbare Lokalität in unserem Bezirk.
Seit 1688 tauchen als Besitzer immer wieder Namen wie Metten, Krüger, Mette, sowie deren Eheleute Massante Schultz und ähnliche auf. Man kann sagen das eine Dynastie von Bauern die Geschicke des Krugs geprägt hat. Ich empfehle einen Besuch vor Ort, um sich unter anderem die vielen alten Fotos die Geschichten erzählen anzuschauen.
Seit 2012 hat Jasmin Plantikow den Dorfkrug weitergeführt und ihn 2018 an ihre Tochter Sarah übergeben. Endlich mal wieder eine Generationenfolge?
Der Dorfkrug war in den vergangenen Jahrhunderten nicht nur Gasthaus, er war Posthalter Station, Pferdewechsel Standort, er war eine Herberge für Händler, Bauern und Bürger die über Königswusterhausen nach Schlesien reisen wollten. Der König Friedrich der II kehrte im Krug ein, wenn er auf dem Weg zu seinem Jagdschloss in Wusterhausen war.
Wer kann sich noch vorstellen dass zum Krug einmal ein zauberhafter Biergarten mit altem Baumbestand gehörte? Dieser Verlust ist besonders zu bedauern. Fotos von 1920 und 1939 zeigen es uns. Der Dorfkrug heute bietet regionale frische Deutsche Küche mit modernem Einfluß und eine abwechslungsreiche Frühstückskarte. Mit den Gasträumen und dem Außenbereich können die Gäste die Küche und das Herz von Rudow genießen.
Übrigens hier steht der Chef am Herd!
Heidi Sandner
Fotos von Dietmar Ephan, aus Rudower Geschichte und Geschichten
(Band 1)mit freundlicher Genehmigung des Rudower Heimatvereins e.V.
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Bauer Mendler und das Streifenhörnchen Felix
Nach meinem Zuzug nach Berlin im Januar 1962 – aufgrund des Mauerbaus -, wohnte ich bei einer sogenannten „Schlummermutter“, einer äußerst warmherzigen Frau, zur Untermiete mit Vollverköstigung.
Wie es das Leben so will, blieb es nicht aus, dass ich mit der Zeit mit einem gleichaltrigen weiblichen Wesen engen Kontakt pflegte. Dies vorab, dass es zu keinen Irritationen kommt, auch später meine Ehefrau wurde. Besagte Person wohnte in Schöneberg in der Frobenstraße. In ihrer Obhut lebte das Streifenhörnchen Felix in einem größeren Käfig. Die Einstreu, die Sägespäne, befanden sich aber, durch die Aktivtäten des Hörnchens, oft mehr außerhalb des Käfigs als im Inneren. Es war leider nicht immer gut anzusehen und sorgte für zusätzliche reinigende Handlungen. Eine Idee kam auf, wir rupften Gras und ließen es trocken. Mit dem Heu wurden dann, mit einer Schicht, die Sägespäne bedeckt, dies war die Lösung des Problems. Fortan war der Außenbereich um den Käfig „sauber“ und allgemeine Zufriedenheit stellte sich ein. Aber woher im Winter das Heu nehmen? Die Rettung zeigte sich in einer Straße in nächster Nähe – direkt kurz um die Ecke rum -, dort gab es Kühe und frische Milch. Zaghaft dort angefragt, ob wir etwas Heu bekommen könnten, wurde freundlich mit einem Ja beantwortet und zu einem moderaten Preis ausgehändigt. Das war unser Kontakt zu „unserem“ Nachbarn Bauer Mendler, der nicht nur mit seinen Produkten - speziell mit der Milch - den Menschen half, sondern indirekt dafür sorgte, dass das Streifenhörnchen sich in seinem Käfig wohl fühlte.
Wir zogen später 1969 – mit Felix - in die Gropiusstadt und Bauer Mendler sich später – in den 1980er Jahren - in Rudow ansiedelte, nicht wegen dem Streifenhörnchen, sondern zwangs der innerstädtischen Veränderungen. So kreuzt sich heute das erlebte Vergangene und die jetzige Erinnerungs-Verbundenheit.
P.G.
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Zwei kuriose Erfahrungen in Rudow
Wir sind 1982 in den beschaulichen idyllischen Zipfel von Rudow, der eingebettet von der Berliner Mauer, der Rudower Höhe und dem Ausstellungsgelände von Eternit lag gezogen. Aber aus einem für uns unerklärlichen Grund hieß nicht nur unser kleines Stück Glashütter Weg, sondern auch die nicht verbundenen Straßenzüge zwischen Lettberger Straße und Selgenauer Weg und zwischen Am Espenpfuhl und Deutschtaler Straße. Obwohl wir am Telefon die konkrete Wegbeschreibung durchgeben haben, gaben Taxifahrer, Besucher und sogar die auf Grund eines verunglückten Jugendlichen auf der Rudower Höhe von uns gerufenen Feuerwehr, mit der ich dann als Lotse direkt verbunden wurde, nach erfolgloser Hin - und Rückfahrten durch dieses Straßenlabyrinth und Dank der Halbschranke an der Kreuzung Neudecker Weg – Lettberger Straße genervt ihr Vorhaben unsere Adresse zu erreichen auf. Zu unserer Freude wurden 1987 die zwei Straßenzüge in Benatzkyweg und Gerhard Winkler Weg umbenannt und alle Anwohner waren für diese Entscheidung sehr dankbar.
Eine kurze Episode im November 1989 in Alt Rudow
Mit meinen Töchtern im Schlepptau startete ich Richtung Alt Rudow zum Einkaufen und war völlig überwältigt von den Menschenmassen die dicht an dicht standen und eine Schlange durch Alt Rudow bildeten. Ein durchkommen auf den Bürgersteig gestaltete sich zu einem Hindernislauf während ich meine Töchter fest an meinen Händen hielt. Zu meinen Entsetzen wurde ich immer wieder angesprochen ob ich aus dem Westen komme und meine Kinder ihnen kurz für das Begrüßungsgeld ausleihen würde. Da meine Kinder mich ängstlich ansahen kämpften wir uns in das Lebensmittelgeschäft vor und verließen nach dem Einkauf fluchtartig diesen chaotischen Ort und ich erledigte meine Einkäufe in Alt Rudow nur noch alleine.
Autorin Rita Göritz,
von den Rudower Tintenklexxern
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„Wir ziehen nach Rudow...
nach Rudow???“
-eine späte Sympathiebekundung -
Die Reaktion von Familie, Freundinnen und Freunden war durchaus geteilt...
Geboren bin ich in den 50”ern in Schmargendorf. Hier hatte der Beamtenwohnungs-bauverein zu Köpenick e.G., in den 20ér und 3Oér Jahren, eine größere Siedlung in der in dieser Zeit beliebten Blockbauweise errichtet, die im Süden an die Felder der Landwirtschaftlichen Fakultät der TU-Berlin und im Norden an den verbliebenen Teil des alten Dorfangers angrenzt. Viele Kindheitserinnerungen ranken sich um den alten Dorfkern, in dem es neben der Dorfkirche, der Dorfschule, dem Dorfteich, dem Friedhof, der Apotheke, dem Buchladen, der Eisdiele, den Frisiersalons, einigen kleineren Lebensmitteleinzelhändlern natürlich auch die wichtige Dorfkneipe gab. Hier holte man frisch gezapftes Bier im Syphon, wenn die Skat- oder die Kanasterrunden der Väter stattfanden. Natürlich gab es auch Schulen, ein schönes neogotisches Rathaus mit Bibliothek und Ratskeller, die Laubenkolonien, ein Schwimmbad und eine große Sportanlage am Lochowdamm.
Das heutige Rudow erinnert mich manchmal stark an das Schmargendorf meiner Kindheit, auch hier gibt es noch den Dorfkern, die Alte Dorfschule, die Gertrud-Hass Bibliothek, ein kleines Kaufhaus und neben den Filialen der Supermarktketten sogar noch etliche kleine Einzelhändler, die sich nach wie vor tapfer behaupten. Auch Dorfteich, Dorfkirchen und Sportplatz sind vorhanden aber statt des Frisiersalons gibt es heute mehrere Barbershops.
Auf dem Weg „ins Dorf“, so sagte man in Schmargendorf waren immer Nachbarschafts- gespräche wahrscheinlich. Man sah viele Menschen in kleinen Gruppen zusammenstehen und miteinander sprechen. Große Parkplätze waren noch nicht da und es gab deutlich weniger Autos. Der alltägliche Einkauf wurde zu Fuß erledigt. Erst mit der Schließung eines der ersten Fertigteilwerke, der Firma Schälerbau in der Mecklenburgischen Straße, begann mit der Errichtung des ersten Supermarktes, das Einkaufen mit dem Auto. Aber auch hier, so wie im „kleinen“ Einzelhandel, kamen Verkäuferinnen und Verkäufer meist aus der näheren Umgebung und man begrüßte sich oft noch namentlich. Gelungene Frühjahrs-, Oster- oder Weihnachtsdekorationen wurden Dorfgespräch und wurden wohlwollend zur Kenntnis genommen.
Allerdings, eine „Schmargendorfer-Meile“ gab es nicht und meines Wissens auch kein derartiges stadtteilbezogenes Zusammenwirken von Handel, Handwerk und Dienstleistern im gemeinsamen Interesse. Hier hat sich Rudow einen Schatz geschaffen und bewahrt, der nicht hoch genug geschätzt werden kann: die bestehende Bereitschaft, bei allem Wettbewerb auch etwas Gemeinsames im Interesse Aller zu tun. Im Zuge der Veranstaltungen „650 Jahre Rudow“ wird es wieder zu bemerken sein. Natürlich beziehen sich nicht alle Siedlungsräume im Stadtteil, wie die Stadtplaner es formulieren, so stark auf den Rudower Dorfkern. Die Frauensiedlung, Teile der Gropiusstadt aber auch die Pfarr- siedlung sind Wohnareale, die sich von der sonstigen Ein-, Reihen- und Mehrfamilien- hausstruktur unterscheiden. Und dann gibt es ja auch noch die „Siedler“, die sich nicht nur in ihrer Organisationsform, sondern auch mit ihren Casinos oder Vereinshäusern stärker auf ihre Gemeinschaft beziehen und doch in mancherlei Hinsicht mit den Häuslebauern im Blumen- oder Handwerkerviertel viel Gemeinsames haben.
Anders als Schmargendorf hat Rudow auch an der Kanalstraße ein etwas größeres Industriegebiet, das in Folge der Asbestzementproduktion der Firma Eternit eine traurige Berühmtheit erreichte. Asbest-Zement war als Baustoff wegen seiner Formbarkeit und (Hitze-)Beständigkeit bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa beliebt.
Er wurde in allen Ländern in Nord, Süd, West und Ost intensiv genutzt, ohne dass man zunächst die gesundheitsgefährdenden Spätfolgen erkannte. Schlimm war die lange Leugnung der Folgen in Wirtschaft und auch in Politik.
Mit dem Abriss der letzten Gebäude der Firma Eternit an der Kanalstrasse endete die architektonische Geschichte der Asbest-Zementproduktion in Rudow. Für viele Betroffene endet die Geschichte aber noch lange nicht und die Entsorgung aus Häusern und Wohnungen wird uns noch viele Jahre begleiten müssen.
Zurück zu den Rudowerinnen und Rudowern. Wer hier wohnt oder siedelt, lernt Nachbarn kennen und nicht immer lassen sich Vorstellungen über schöne Gärten, neue Zäune, Tierhaltung oder auch Lärm- oder Lichtschutz in Einklang bringen. Streit über den Gartenzaun ist nicht selten, Freundschaften sind es aber auch nicht. Gemeinsame Grillabende finden ebenso statt, wie nachbarschaftliche Kaffeetafeln. Nicht zu vergessen, die Feste, Feiern oder Flohmärkte bei den Siedlergemeinschaften.
Sonntags wird gleich hinter dem Schmiedeteich in Alt-Rudow Boule gespielt (Zitat: „ wo ein Franzose lebt, muss auch ein Bouleplatz sein“). Hier hat sich der „General de Boule“ durchgesetzt, der, der Liebe wegen, in Rudow „hängen geblieben“ ist. Auch Mr. K. gehört zu der Gruppe, der „Hängengebliebenen“. Als ehemaliger britischer Soldat, ist er nach der Zeit der Stationierung in Rudow geblieben. Sein Hobby, die Herstellung und Bemalung von Zinnsoldaten hat ihn später weit über Rudow bekannt gemacht.
Man muss sich nicht lange in Rudow aufhalten, um PESCH kennenzulernen. Er ist mit seinen Bildern aber auch als aktiver Bürger in Rudow omnipräsent, hat über den Stadtteil viel zu erzählen und viel gemalt. Überhaupt ist die bildende Kunst in Rudow beliebt, die Ausstellungsmöglichkeiten in der Galerie der Alten Dorfschule sind über Jahre vergeben. Ob die Bereitschaft Kunst zu erwerben auch so groß ist, ist zumindest umstritten.
Unser Vereinsleben in Rudow ist hoch entwickelt. Ad-Hoc fallen mir die Sportvereine, der Schützen-, der Heimat-, der Eigenheim- und Grundbesitzer Verein, der Reiterverein, die Kleintierzüchter, der Imkerverein und natürlich der Kulturverein Alte Dorfschule Rudow ein.
Viele Aktive sind nicht nur in einem Verein sondern zeitgleich in mehreren engagiert. „Man kennt sich“ also auch aus dem Vereinsleben.
Jetzt will ich aber nicht zu sehr in nostalgische Schwärmerei verfallen. Festzuhalten ist:
Nach zehn Jahren Rudow hat der Stadtteil und seine Menschen unsere Sympathie ge- wonnen. Wir wohnen gerne hier und die alten Freundinnen und Freunden besuchen uns insbesondere im Sommer gerne, auf ein schönes Glas Wein auf der Terasse.
K.P.
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Auch das gab es in Rudow weiß Heide Binner
Wussten Sie, dass der Stettiner Bahnhof an der Kanalstraße in Rudow stand?
Im Jahr 1977 wurden auf einem Gelände an der Kanalstraße die Kulissen eines Bahnhofsvorplatzes in den 20ger Jahren für die Dreharbeiten zu der Fernsehserie "Ein Mann will nach oben" aufgebaut. Ich meine, es war die des Stettiner Bahnhofs, ich kann mich aber auch nach so vielen Jahren irren. Damals wusste ich genau, um welchen Bahnhof es sich handelte, denn als uns eine Freundin aus Israel erzählte, dass sie just von diesem Bahnhof aus Ende der 20ger Jahre als ganz junges Mädchen Berlin von dort aus verlassen hatte, um sich am Aufbau des Gelobten Landes - also Israels - zu beteiligen. Bevor sie dort ankam, nahm sie an einem Seminar in der Schweiz teil, wo sie auf das Leben in Palästina vorbereitet wurde. Seither lebte sie dort in Tel Aviv.
Als sie uns im Hebst 1977 in Berlin besuchte, gingen wir mit ihr nicht nur ihre alte Wohngegend rund um den Wasserturm am Prenzlauer Berg besuchen, sondern konnten ihr auch die Filmkulisse zeigen, vor der sie sich dann für ihre Kinder und Enkel in Israel fotografieren ließ.
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aus dem Gemeindegruß 7/8, 2021 - mit freundlicher Genehmigung von Herrn Heinz Wendt
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Rudow, ein liebevoller Blick auf einen kleinen Ortsteil von Neukölln
Der Liebe wegen bin ich vor etwa 40 Jahren nach Rudow gezogen. Dort, am Fuß der Rudower Höhe wurde ich sesshaft. Weiter als bis zur Rudower Höhe ging es damals nicht, dahinter war die Mauer, dahinter war die Welt zu Ende.
Damals hatten wir im Winter noch Schnee und unsere Kinder konnten den 70 m hohen Trümmerberg runter rodeln. Nicht ganz, aber doch ein ganz schönes Stückchen. Nach und nach wurden Spielplätze angelegt, eine Aussichtsplattform. Die Rudower Höhe war immer einen Spaziergang wert.
Ich glaube, dort wo sich heute der Mozartring befindet, hatten die Amerikaner eine Radarstation errichtet. Der Spionagetunnel, den sie angelegt hatten, war nicht sehr erfolgreich. Bereits vor dessen Bau war die Führung der damaligen UDSSR über die Aktion informiert.
Ich war in ein kleines Komponistenviertel gezogen. Die Pfarrsiedlung war noch nicht gebaut. Um uns herum waren verwilderte Flächen, die ehemals dort stehenden Lauben und schiefen Häuschen waren bereits abgetragen. Fuhr ich morgens zur Arbeit, stand auf der Kreuzung Lettberger Str. Ecke Neudecker Weg manchmal ein Kamel. Dann wusste ich, aha, der Zirkus Rogall gastiert wieder.
Nicht vergessen will ich das Rudower Flies. Im Laufe der Zeit wurde es immer weiter liebevoll aus- und umbaut und man konnte zu Fuß gemütlich bis zum Dörferblick laufen.
Ich glaube 1982 zog der Milchhof Mendler aus Schöneberg zu uns nach Rudow. Ein richtiger Bauernhof mit Kühen, Hühnern, Ziegen, Schweinen und Pferden. Meine vier Großstadtenkelkinder konnten zusehen, wie ein Pferd beschlagen wurde. Zu Weihnachten bestellten wir in dem kleinen Hofladen regelmäßig unsere Gans.
Fuhr ich durch die Straße Alt-Rudow, erinnerte ich mich, dass ich bereits früher oftmals durch diese kleine Dorfstraße gefahren war. Ein Hauch von Urlaub hatte mich dann stets umweht. Mit meinem Mann und unserer kleinen Tochter spazierten wir an der Mauer entlang und erfreuten uns an den Feldern, die dort überall noch standen.
1989 fiel die Mauer und aus Zweiberlin wurde wieder Einberlin. Die Autobahn musste verlängert werden, teilweise konnte sie untertunnelt werden. Ein Landschaftspark entstand um uns herum. Der Bauernhof wurde integriert und so laufe ich morgens, wenn ich meine Nordic-Walking-Runden drehe, an Kühen und Pferden vorbei. Seen wurden angelegt, auf denen alle möglichen Wasservögel eine Heimat gefunden haben. Daneben grasen Wasserbüffel. Laufe ich Richtung Schönefeld, komme ich an Ziegen, Schafen, Gänsen und Gallowayrindern vorbei. Nicht zu vergessen: die vielen schönen Birkenwäldchen.
Seit 40 Jahren im Grünen wohnend, habe ich manchmal das Gefühl, umgezogen zu sein ohne umgezogen zu sein.
Die Dorfstraße Alt-Rudow ist in all den Jahren gewachsen. Eine Dorfstraße ist sie nicht mehr, eher eine Kleinstadtstraße. Gemütlich ist sie zum Glück geblieben.
Schon immer gingen wir dort zum Arzt. Oben, an der Rudower Spinne, war Reichelt. Reichelt blieb ich treu, bis es schon lange, lange EDEKA war. Zwischen Reichelt und der Apotheke stand immer ein windschiefer Blumenkiosk. Als meine Mädchen in die Pubertät kamen, verliebten sie sich in den damaligen Pächter, Eigentümer – was weiß ich. Er ähnelte so sehr dem Mann auf dem Foto eines Liebesschmökers, den sie irgendwann mal verschlungen hatten. Noch immer ist dort ein Blumenkiosk, aber während der Coronazeit wurde der alte Kiosk durch einen neuen ersetzt. Die Betreiber des Blumenkiosks haben schon lange gewechselt.
Nach meiner Erinnerung war Woolworth seit jeher dort. Der Supermarkt daneben hatte in all den Jahren viele Betreiber, an Bolle erinnere ich mich. Seit einigen Jahren ist nun REWE dort.
An was erinnere ich mich noch? Erinnerungen sind flüchtig. Ein kleines Bauernhäuschen beherbergte vor 40 Jahren einen Bücherladen, später einen Friseur und heute einen Gärtnereibetrieb. Die vielen Geschäfte die es heute in Alt-Rudow gibt, ich kann sie nicht alle erwähnen, was war vor ihnen in den Läden? Nicht alle Häuser standen schon immer dort.
Die vielen Restaurants gab es, als ich nach Rudow zog, auch noch nicht. Anders verhält es sich mit dem alten Dorfkrug. Den gibt es bereits seit 1375. Der Alte Fritz wechselte hier bereits seine Pferde, wenn er aus Berlin kommend zu seinem Jagdschloss Königs Wusterhausen ritt.
Ein großer Dorfbrand zerstörte den Krug und so ist das heutige Gebäude aus dem Jahre 1802.
Auch die Nebenstraßen haben sich gemausert. Nicht vergessen will ich den schönen Papierladen und natürlich die Buchhandlung. Wer mag sie nicht?
Doch da muss ich nun leider auch von einer anderen Seite Rudows berichten, von seiner rechten Seite. Schon immer hatten Menschen unterschiedliche Meinungen. Doch Scheiben einschlagen, Mitmenschen bedrohen, Autos anzünden – das alles hat nichts mit Meinung zu tun.
Zurück zur Alt-Rudow. Ein Gebäude will nicht vergessen werden, die Alte Dorfschule. Für das 1890 errichtete Gebäude endete 2001 der normale Schulbetrieb und die Kunst zog ein. Die Liste der Aktivitäten der „Alten Dorfschule Rudow“ ist lang. Ein Blick auf das Programmheft lohnt allemal. So trifft sich dort u. a. auch eine Gruppe, die es liebt, mit Worten zu jonglieren und Neues auszuprobieren, Texte zu schreiben – wie z. B. diesen. Die Rudower Tintenklexxer.
Autorin Karen-Kristina Bloch-Thieß
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Bolle reiste jüngst zu Pfingsten … nicht Bolle, sondern ich „reiste“ nach Rudow.
Ein geplanter Überraschungsbesuch - Juni 2022 - im Krankenhaus stand an. In der Corona-Zeit kein leichtes Spiel - einige von Ihnen kenne dies -, so ad hoc einen Besuch, der zur schnelleren Genesung beitragen sollte, zu absolvieren.
Ein frischer Corona-Test, für einen Besuch am Sonntag, konnte nur am gleichen Tag erfolgen. Schnell ins Internet geschaut – es beinhaltet ja viele Infos - brachte eine nahegelegene Testmöglichkeit in der City von Rudow – in Alt-Rudow 70-73 - zum Vorschein. An dem bewussten Tag – um 10:00 Uhr - die besagte Adresse angesteuert. Enttäuschung: es gab keine Test-Station und auch keinen Hinweis darüber. Fehl-Info, was nun? Die Straße halb rauf und halb runter, suchend, abgeklappert und kein Erfolg. Die Sonne meinte es gut, da ich nicht gerade gegen die Sommerhitze resistent bin, hatte für mich die Sonne ihre Augen zu weit geöffnet. Auf diverse Nachfragen bei Passanten - die zu diesem Zeitpunkt sehr rar waren - gab es mehr oder weniger nur mitleidiges Kopfschütteln. Aufgeben des Unterfangens kreiste in meinem Kopf, die Sonne war immer noch in bester Laune.
Die Zeit ran hin, ich hatte etwas mit 12:00 Uhr Schließung im Kopf. In meiner nahenden tem-porären Verzweiflung steuerte ich eine Autofahrerin an, die gerade im Begriff war ihren fahr-baren Untersatz zu besteigen: “Entschuldigen Sie bitte, können Sie mir sagen wo ich …?“
Nachdenkend: „Kann ich nicht genau sagen, eventuell schauen aber Sie mal am Ende der Straße (Alt-Rudow), dort könnte eine Teststation sein, glaube ich!“ und zeigte dabei in die nördliche Richtung. Von mir einen höfflichen Dank aussprechend mit dem Wunsch verbunden, für einen schönen, angenehmen, frischen Sonntag. Also noch einmal die Straße rauf, jetzt aber ganz. Die Sonne hatte zwischenzeitlich auf Voll-Power geschaltet.
Auf der rechten Straßenseite steuerte ich die vermeintliche Stelle – dabei nachdenkend: was mache ich, wenn es dort keine Testmöglichkeit gibt? - an. Aus diesem Gedankengang wurde ich jäh gerissen, als ich eine Grundstücksausfahrt queren wollte und ein Auto, das ziemlich flott in dieser Ausfahrt einbog, mir den Weg versperrte. Blitzartig: Was soll denn das?
Sofortige Auflösung, durch das heruntergelassen Beifahrerfenster sah ich die von mir vorher kontaktierte Autofahrerin: „Gehen Sie bis zur Sparkasse, auf der linken Seite ist die Test-Stelle. Ich bin runtergefahren um nachzusehen!“ Ich konnte nur noch kurz meinen Dank aussprechen, den Rückwärtsgang eingelegt und weg war sie. Einen Herzschlag lang stand ich verdattert da. Wo gib es denn sowas? Die Sonne beleuchtete wärmend diese Szene.
Kurz und gut, voller Zuversicht folgte ich diesem Hinweis. Am besagten Ort angekommen – ehemaliges altes Postamt - verlief alles positiv bzw. negativ in Sachen Corona. Die Sonne bestrahlte freudig mein negatives Testdokument.
Der weitere Tagesverlauf nahm seinen erhofften Gang. In voller Zufriedenheit endete dieser Tag bei mir, trotzt der Wärme, die mir zu schaffen machte. Am Abend schloss die Sonne ihre hellen Augen um sie am nächsten Tag, ausgeschlafen, wieder weit zu öffnen.
Tipp: Brauchen Sie Hilfe, ab nach Rudow. Hier ist der scheinbare Lapsus von Verona Feldbusch (Pooth) „Da werden Sie geholfen!“ zuhause. Mich hat der Spruch und das Glück eines Suchenden in Rudow erwischt, in Gestalt einer Rudowerin und ihrer uneigennützigen Hilfe.
Von mir heute, ein herzliches Dankschön dafür.
P.G.
Anmerkung der Redaktion: Wenn Sie, liebe helfende Rudowerin, dies lesen sollten und sich wiedererkennen: Bitte, melden Sie sich unbedingt in der Alten Dorfschule.
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Ein Kürbis ist halt auch nur ein Kürbis
oder die Wünsche eines Rudower Kürbis zu Halloween
Da war er nun herangewachsen. Ein richtiger Riesenkürbis war er geworden. Seine Stängel, teils niederliegend, teils kletternd, waren x-mal verzweigt. Ein herrliches Gelborange hatte er angenommen und darauf war er auch ordentlich stolz. Stolz natürlich auch auf seine Größe. Was er wohl wiegen mochte? Er hatte von einem Weltrekord gehört. Da soll ein Kürbis 1226 Kilo gewogen haben. Diesen Rekord galt es zu brechen. Er hatte einen wunderschönen sonnigen Platz und wurde vom Eigentümer eines in Rudow gelegenen Gartens geradezu liebevoll gepflegt. Was sollte da schiefgehen?
Manchmal dachte er über seine Zukunft nach. Was aus ihm wohl werden würde? Er sah sich zu Halloween geschmückt und bemalt auf einem Tisch stehen. Kinder und Erwachsene standen um ihn herum und bestaunten ihn. Ihm zu Ehren hatten sich alle verkleidet. Die Kinder waren bunt geschminkt. Vampire und Hexen tanzten um ihn herum, Skelette. Es war eine Freude, Kürbis zu sein. Alle waren vergnügt und lachten. Besonders die Kinder. Mit beiden Händen würden sie sich ihre Münder mit Süßigkeiten vollstopfen und laut und vernehmlich schmatzen.
Er musste tief seufzen. Was für ein Glück jetzt gewachsen zu sein. So lange gab es dieses Halloween-Fest mit seinen gruseligen Bräuchen in Europa noch gar nicht. Was für arme Geschöpfe all seine Vorfahren, die nur im Kochtopf gelandet oder zu einer süßsauren Beilage verarbeitet worden waren.
Er würde der Mittelpunkt des Festes werden, vielleicht sogar von innen erleuchtet?
Wäre er nicht so schwer und groß gewesen, er hätte sich ordentlich gestreckt und gerekelt.
So verging die Zeit. Es wurde August und Ende August sah der Kürbis seiner Ernte ungeduldig entgegen. Anfang Oktober kam sein Besitzer, klopfte auf ihm herum und befühlte seine Schale. Gründlich wurde sein Stiel untersucht. Warum wurde er nicht geerntet? Alles an ihm war doch bestens.
Die Tage vergingen und der Kürbis wurde immer unruhiger. Es kam der 29. Oktober, der 30. Oktober. Hatte man ihn vergessen? Hätte er eine Stimme gehabt, er hätte laut gerufen. Ach was, gerufen. Geschrien hätte er! Das kann doch nicht sein. Der 31. Oktober war da und er lag noch immer an seinem alten Platz.
Ein paar Tage vergingen noch. Der Kürbis war nur noch verzweifelt. Eine unendliche Traurigkeit hatte von ihm Besitz ergriffen. Hätte er Tränen gehabt, hätte er den Boden um ihn herum damit benetzt.
Halloween war schon lange vorbei, da kam sein Besitzer und erntete ihn. Er schleppte ihn in die Küche und legte ihn auf den Küchentisch. „Was für ein schöner Kürbis“, sagte die Gärtnersfrau. „Warum haben wir ihn nicht zu Halloween geerntet?“
„Ja“, antwortete der Gärtner, „ich hatte schon dran gedacht, aber dann meinte ich, er wäre zu schade dafür. Mach lieber eine lecke Suppe aus ihm!“
Autorin Karen-Kristina Bloch-Thieß,
von den Rudower Tintenklexxer
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Der Schiefe Turm von Pisa Rudow oder aller guten Ding sind drei.
Erst eins, dann zwei, dann drei, am 3. Mai 2007 wurde der Turm des Heizkraftwerkes-Rudow - mit 100 Meter Höhe - um 11:14:10 MESZ in die Pisa-Schieflage gebracht und danach flachgelegt. Der Schornstein legte sich „zerbröselt“ zum - zuvor gesprengten – Gebäudetrack (Kesselhaus) auf dem Ariel des Heizraftwerkes nieder. Diesmal gelang erfolgreich, mit weniger Sprengstoff und einer speziellen punktuellen Technik, diese dritte Sprengung. Die vorherigen Versuche scheiterten am falschen Sprengstoff, an der Unerfahrenheit der ausführenden Firma und an Fehlanwendungen in der Spreng-technik, speziell bei Skelete-Bauwerken, wie das Kesselhaus. Das Heizkraft ging 1963 in Betrieb und wurde 2004 stillgelegt, es versorgte hauptsächlich die Wohnungen der Gropiusstadt mit Fernwärme. Zur weiteren Fernwärmeversorgung, des Ortsteils, sorgt ein neues Holzheizkraftwerk „Berlin-Neukölln/Gropiusstadt“. Es liegt nicht weit entfernt vom ehemaligen alten Heizkraftwerk-Rudow am Teltowkanal.
P.G.
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Der Grenzstreifen
Als wir im März 1966 nach Rudow in den Rhodeländerweg zogen, konnten wir von unserem Küchenfenster aus wenigstens noch durch den Grenzzaun sehen. Es war ein Zaun - noch keine Mauer. Die wurde erst einige Zeit später gebaut - wann, kann ich nicht mehr sagen - irgendwann zum Ende der sechziger Jahre. Noch sah man fast ungehindert, dass dahinter freies, unbebautes Land lag und – wo man schon wieder hohe Häuser sah – war wieder "Westen", die Naharya-Siedlung in Lichtenrade.
Der Grenze so nahe zu sein, die Teilung unseres Landes so dicht und täglich vor Augen zu haben, war gleichzeitig geprägt von einem wohligen Hauch Dankbarkeit, dass wir zum Glück auf der "richtigen" Seite leben konnten – und dem Bedauern, keine grenzenlose Freiheit zu besitzen, nicht einfach mal nach drüben gehen zu können, obwohl es doch so nah war. "Gruselig", wie unsere westdeutsche Verwandtschaft diese Nähe fand, empfanden wir sie nicht. Unnormal schon, aber normal war die ganze Lage Deutschlands und Berlins ohnehin nicht.
Die Absurdität der Situation wurde noch verdeutlicht dadurch, dass durch unser ländliches Wohngebiet täglich ein Jeep mit einem fest montierten Maschinengewehr fuhr, besetzt mit amerikanischen Soldaten zur Beobachtung der Grenze und dem Schutz vor Übergriffen der "anderen Seite".
Auch die Gegenseite tat das Ihrige für die Sicherung ihrer Staatsgrenze – allerdings war es ihr Bestreben, Grenzverletzungen durch Flüchtlinge zu verhindern, indem sie ihr Grenzgebiet in eine Art unüberwindlichen Todesstreifen verwandelt hatten – mit Leuchtkugeln, Stolperdrähten, Hunden, engmaschiger Beleuchtung und Beobachtungs-türmen. Schon das Hinterland durfte nur mit Genehmigungen und unter Bewachung betreten werden.
In der Nacht sahen wir häufig Leuchtkugeln aufsteigen, die die Gegend mit hellem rötlichen Licht beschienen. Kaninchen oder anderes Getier – nicht flüchtende DDR-Bürger – lösten sie aus, indem sie die Stolperdrähte berührten – für unsere Kinder war das so etwas wie ein kleines Feuerwerk.
Irgendwann wurde der Zaun auch hier durch die bekannte Betonmauer ersetzt.
Direkt neben der Grenze – auf unserer Seite – jetzt am Ende der Wassmannsdorfer Chaussee, wuchs eine Mülldeponie immer höher.
Auch hier leuchtete und knallte es öfter – Sprayflaschen explodierten, wenn es hin und wieder zu kleinen, übelriechenden Bränden kam.
Irgendwann Ende der 60ger Jahre wurde die Müllablage eingestellt und die Kippe mit Bauschutt und Erde beschüttet. Damit auf diesem Gelände jemals etwas wachsen könnte, wurden Rohre ins Innere getrieben, die sorgten dafür, dass das Methangas abgefackelt werden konnte – was wiederum ein recht ungewöhnlicher Anblick war.
Nach einiger Zeit begann das Amt für Stadtplanung mit dem Wegebau und der Bepflanzung der Kippe.
Nun hatten wir von oben gute Einsicht in die irrwitzige Einrichtung "sozialistischer Grenzwall". Da waren neben den geharkten Sandstreifen mit den verborgenen Stolperdrähten auch die Grenztürme, von denen aus Grenzsoldaten ständig mit Feldstechern das Gebiet überwachten. Heute wissen wir, was für lausige Arbeitsbedingungen dort herrschten, aber wir machten uns einen Spaß daraus, ihnen zuzuwinken, spöttisch "Handküsse" zuzuwerfen, oder eine lange Nase zu machen, um ihnen so zu zeigen, wie lächerlich und unsinnig wir ihren Dienst – ihre Existenz überhaupt – fanden.
Dort, wo die Grenzwächter nicht direkt Einblick auf den Grenzabschnitt hatten, hielten sie Wachhunde, die an einer Leitleine auf und ab tigerten und ständig bellten.
Auf dem mit Laternen beleuchteten Betonweg direkt neben dem Todesstreifen patrouillierten Fahrzeuge der Grenztruppe. Heute ist dieser Weg eingebunden in die Grünanlage, die zwischen Rudow und dem Flughafen Schönefeld entstanden ist, und ein beliebter Radfahr- und Spazierweg – allerdings leuchten die Laternen nun nicht mehr.
Gerne sind wir auf die Müllkippe gegangen, die irgendwann den Namen "Dörferblick" erhielt, um einen Blick auf die für uns fast unerreichbaren Dörfer Großziethen, Waßmannsdorf und Schönefeld zu werfen. Dabei fiel mir auf, wie idyllisch ländlich die Gegend jenseits der Mauer aussah: weite Ackerflächen, Alleen und dazwischen geduckte kleine Dörfer.
Im Gegensatz dazu war das Gebiet auf der Berliner Seite dicht bebaut, ragten doch gleich hinter der Grenzregion die grauen Hochhäuser der Gropiusstadt, Buckows und Lichtenrades in die Höhe und auch die Gärten Rudows, Buckows und Lichtenrades endeten in vielen Fällen unmittelbar an der Mauer.
Einmal sagte ich daher: „Genaugenommen ist diese Mauer ein wahres Landschafts-schutzerhaltungsmonument." Und ich hatte Recht. Mit der Wende änderte sich der Zustand der ländlichen Weite bald. Man muss sich nur umsehen. Bis auf wenig Ackerland sind so gut wie alle ehemaligen Freiflächen inzwischen bebaut oder wenigstens schon verplant und vergeben.
Sogar die Flächen des Niemandslandes unter Einbeziehung des Todesstreifens wurden bald nach der Wende okkupiert und nutzbar gemacht. Die Kleintierzüchter griffen sofort zu: Pferde, Schafe, Ziegen, Rinder, Gänse und sogar Strauße wurden hier gehalten – anfangs auf eher kahlem Land. Denn natürlich gehörten Unkraut und Gestrüpp nicht zu einem übersichtlichen Grenzstreifen und wurden mit der chemischen Keule verhindert.
Mit den Jahren verloren die dort versprühten Unkrautvernichter an Wirksamkeit und es wächst wieder etwas. Es bedarf nun sogar schon mancherorts einer Markierung im Pflaster, um so an einigen Stellen die ehemalige Teilung noch sichtbar zu machen.
Als ziemlich ärgerlich empfinden viele Spaziergänger, dass das Gelände des Grenzstreifens ein Stück vor der Schönefelder Straße privat genutzt werden darf und somit der Mauerweg – wie er nun heißt – unterbrochen ist. Der Weg auf Berliner Seite ist durch wucherndes Grün und von Wurzeln aufgebrochenem Belag auch kaum noch passierbar und sogar teilweise mit mobilen Zäunen versperrt, um Regressforderungen durch Unfälle auf diesem stadteigenen Gelände zu vermeiden.
Auch grenzenlose Freiheit kommt ohne Einschränkungen eben nicht aus.
Autorin Heide Binner,
von den Rudower Tintenklexxer
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Beziehungen zu Rudow
Damals war's... Gleich nach beendeter Ausbildung (eigentlich für den Verwaltungsdienst der Post) wurde ich 1965 beim Postamt in Rudow am Schalter eingesetzt. Mit gemischten Gefühlen fuhr ich am ersten Tag von Britz mit der „47“ zu meiner Arbeitsstelle. Die Schalterausbildung lag eineinhalb Jahre zurück und hatte auch wegen der wenigen Wochen ihrer Dauer kaum Routine aufkommen lassen.
Die Fahrzeit verkürzte ich mit Erinnerungen an meine erste Fahrt mit der „47“, die schon mehr als zehn Jahre zurück lag und mir schier endlos lang erschienen war. Allerdings begann sie am Hermannplatz und führte bis zur Stadtgrenze. Dort arbeitete mein Vater als Bauarbeiter an der sog. Radarstation, die sich später als Basis für den Spionagetunnel nach Altglienicke herausstellte. Meine Mutter und ich machten einen Ferienausflug und holten meinen Vater dort ab. Ich staunte damals (als Kreuzberger Kind) über die Ausdehnung Berlins und Rudows in den 50er Jahren noch reichlich vorhandene landwirtschaftlich genutzte Flächen.
Nach anfänglichen Unsicherheiten habe ich dann, unterstützt von den Kollegen, wohl noch akzeptable Arbeit abgeliefert und mich mit meinem „Gastspiel“ im Schalterdienst arrangiert. Hilfreich waren dabei auch die eher gelassenen Kunden und die allgemein fast dörfliche Atmosphäre. An den Kollegen bewunderte ich die Fähigkeiten im Kopfrechnen:
Spalten mit dreißig übereinander stehenden Summen rechneten sie in atemberaubender Geschwindigkeit zusammen, schneller und sicherer als ich es mit den gerade aufkommenden Rechenmaschinen schaffte.
Nach Schalterschluss wurden die Tageseinnahmen zusammen mit denen des Postamts in Buckow mittels LKW beim Postamt in der Gutschmidtstraße abgeliefert. Manchmal bin ich als Begleiter mitgefahren. Die Strecke führte über den Wildmeisterdamm, der zu dieser Zeit noch die chausseeartige Verbindung zwischen Rudow und Buckow bildete. Ich konnte im Vorbeifahren dort schon die Anfänge der Gropiusstadt auf Rudower „Territorium“ sehen, nicht ahnend, dass ich vier Jahre später dort einziehen würde. Inzwischen bin ich allerdings durch die „Beförderung“ der Gropiusstadt zum Neuköllner Ortsteil ohne Umzug zum „Migranten“ aus Rudow geworden.
Autor: Hans-Georg Miethke
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Rudow meine Heimat
Es ist Januar 1962. Der Mauerbau hat uns aus Kreuzberg vertrieben.
Dort in der Adalbertstraße, direkt am ehemaligen Grenzübergang bin ich aufgewachsen. Ich bin in den Kindergarten gegangen, hatte eine Freundin im selben Haus wohnen und manchmal bin ich mit meinem Puppenwagen zu den Vopos und habe ihnen meine Puppen gezeigt.
Eines morgens kamen die Panzer. Sie standen direkt vor unserem Haus und meine Eltern sahen verzweifelt aus.
Erst der Zaun, dann die Mauer und mein glückliches Kinderleben hat sich von eben auf jetzt verändert.
Es hat nur ein paar Monate gedauert und der Möbelwagen stand vor der Tür. “Wir ziehen nach Rudow,“ hat meine Mutter gesagt, „in ein kleines Haus mit einem Garten.“ Was auch immer das für mich zu bedeuten hatte,
es hat mir nicht gefallen.
Irgendwie kam ich mir vor wie eine Fremde in der neuen Umgebung und es hat etwas gedauert bis ich anfing mich heimisch zu fühlen. Es wurde langsam wärmer und der Schnee war auch bereits geschmolzen, als meine Mutter mit mir ins „Jugendheim“ ging.
Am Ende unserer Straße stand ein Flachbau inmitten eines riesigen Gartens der umgeben war von einer großen Fliederhecke. Das Freizeit- und Jugendheim am Zwickauer Damm. Was auch immer es war, es sah schon von außen nach Spaß aus. An Feiertagen wehte dort die Berliner Fahne, die mit dem Bären.
Wir betraten den großen Raum, in dem bunt gewürfelt Tische und Stühle standen. An den Wänden gab es Regale mit Spielen und Bastelmaterial und die gesamte rechte Front ließ viel Sonnenschein durch die großen Fenster und der Flügeltür die auf die angrenzende Terrasse führte. Gerade zu gab es ein Podest, eine Bühne über die gesamte Raumbreite und in der rechten Ecke stand ein Klavier. Ich liebte Klaviermusik denn mein Onkel Erich hat mir immer vorgespielt.
Vielleicht wird es mir hier doch gefallen dachte ich und bekam gar nicht mit wie eine freundliche Frau auf uns zu kam. Sie war sehr groß und kräftig. Ihre grauen Haare waren ein bisschen wuschelig, was sie lustig aussehen ließ.
„Ich bin die Gretel,“ sagte sie, indem sie meiner Mutter die Hand entgegenstreckte, „und wer bist Du,“ wandte sie sich an mich.
Das war der Anfang einer großen Liebe, denn Tante Gretel wurde zu so etwas wie eine zweite Mutter für mich. Nicht nur für mich war sie das, denn die Geschichte die hinter dieser imposanten Frau steckte machte sie für mich zu etwas wie eine „Rudower Heilige“.
Bereits 1947 hatte Gretel mit ihrem Ehemann und vielen freiwilligen jungen Menschen aus Rudow das Jugendheim aufgebaut. „Wir haben die Steine aus den Schuttbergen der Stadt im Leiterwagen hierher gebracht und daraus unser Domizil gebaut.“ Oft hat sie über die Zeit berichtet und an besonderen Veranstaltungen gab es eine kleine Ausstellung mit Bildern. Sie zeigten junge Menschen die im Schutt arbeiteten aber auch wie sie sich umarmten oder tanzten.
Zwei Jahre hat es gebraucht bis zur Eröffnung und somit war es geschafft, das erste Jugendzentrum Berlins, dass nach dem Krieg seine Pforten öffnete. In Zusammenarbeit mit der Naturfreundejugend wurde hier Raum geschaffen für die vom Krieg so gebeutelten jungen Menschen. Allen voran aber stand „Tante Gretel“, sie war der Kopf und das Herz in einem.
Anfänglich ohne öffentliche Mittel entstand hier am Rande der Stadt eine besondere Gemeinschaft. Über Jahrzehnte hinweg blieben sie „ihrem“ Jugendheim verbunden. Die Generation die den Aufbau miterlebt und mit geleistet hat, ihre Kinder und deren Kinder. Auch viele Jahre später als ich das Glück hatte diesen geschützten Bereich zu erleben, waren sie alle noch da und sie waren noch immer miteinander verbunden.
Für mich, die Fremde aus der Stadt, wurde es zu einem zweiten Zuhause.
Es verging kaum ein Tag an dem ich nicht ins Jugendheim ging. Ließen mich die Kinder aus Rudow anfangs spüren das ich keine von ihnen war, so fühlte ich nach und nach das ich auch eine Rudowerin wurde. Tante Gretel war bei diesem Prozess meine Verbündete. Sie stand mir bei und half mir mich zu integrieren.
Im Sommer spielten wir in dem großen Garten und hier, hinter dem Toilettengebäude, Innentoiletten gab es erst viel später, musste ich Mutproben bestehen. Spinnen auf meinen Armen krabbeln lassen oder einen Regenwurm essen gehörten dazu. Aber irgendwann hatten sie einfach vergessen wo ich herkam. Ich war eine von Ihnen.
Bis heute denke ich daran wie vielfältig die Angebote waren, die wir Kinder nur so aufgesaugt haben. Wir bastelten Geschenke für alle möglichen Anlässe, die wir dann stolz unseren Eltern präsentierten. Es gab eine Lesegruppe in der uns vorgelesen wurde. Eine Flötengruppe, eine Gesangsgruppe und eine Volkstanzgruppe. Zum Tanzen bekamen wir einheitliche Röcke, die die Zugehörigkeit zu unserem Jugendheim verkörperten. Für die kleinen Kinder mit bunten Punkten und die größeren aus grünem Leinen. Im Sommer gab es Volkstanzfeste im Garten, zu dem auch Kinder und Jugendliche aus anderen Bezirken kamen und es ging immer fröhlich und ausgelassen zu. Musik war ständig ein großes Thema. Wir tanzten und sangen und das nicht nur im Kindesalter. Später als Jugendliche setzte sich das fort, auch wenn die Lieder andere wurden.
Tante Gretel ging regelmäßig mit uns auf große Fahrt. Wir reisten quer durch Deutschland in Jugendherbergen der Naturfreundejugend und verlebten dort unbeschwerte Tage. Was hier auf die Beine gestellt wurde um uns eine schöne Zeit außerhalb der Berliner Mauer zu bereiten war unglaublich. Von Wanderungen und Besichtigungen in die Umgebung, Treffen mit der Naturfreundejugend der jeweiligen Region, bis hin zu kleinen Festen mit leckeren Buffets. Viele Rudower Kinder kamen aus Familien, die ihren Sprösslingen nicht so viel bieten konnten, aber auch hier wurde geholfen. Wie auch immer unsere Gretel das schaffte, jeder konnte mitfahren.
Obwohl ich es liebte auf Reisen zu gehen, hatte ich anfangs Heimweh.
Dann gab es Trost gewürzt mit viel Humor und Liebe. Gretel nahm mich in den Arm und sagte, „weine ruhig, dann brauchste nicht so oft zur Toilette gehen.“ Das Heimweh verging und die schönen Erinnerungen blieben.
Überhaupt war Tante Gretel ein Meister der Organisation. Es gab immer einen Grund zu feiern und dazu gehörte natürlich ein schönes Buffet mit kleinen Leckereien wobei der Käseigel nicht fehlen durfte. Wir halfen bei der Zubereitung und waren so, immer ein Teil des Organisationskomitees.
Ich könnte noch so viele Erlebnisse schildern, so viele Geschichten erzählen von meiner unbeschwerten Kindheit im Jugendheim
Etwa 10 Jahre bin ich regelmäßig dort hin gegangen, habe sogar meine Hochzeit im Jugendheim gefeiert und noch heute habe ich viel Kontakt zu alten Gefährten aus dieser Zeit. Wir alle erinnern uns mit vielen guten Gefühlen an unsere Kinder und Jugendzeit.
Viele von ihnen sind nicht mehr hier, auch Tante Gretel sieht inzwischen von oben auf uns herab. Ich sehe hinauf und sage;
Danke Tante Gretel für meine unbeschwerte, glückliche Kindheit.
Autorin Harriet W.,
von den Rudower Tintenklexxer
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Parkplatz der Dramen
Der große Parkplatz an der Rudower Höhe ist für seine Geschichten bekannt. In erster Linie als Treffpunkt für liebeshungrige Pärchen, die was auch immer in ihren Autos treiben. Doch auch das eine oder andere Kuriose oder Tragische ereignete sich dort bereits. Wenn der Parkplatz reden könnte, ich glaube, uns würden die Ohren schlackern.
Jedes Jahr blühen die Pappeln und die weißen Flocken wehen durch die Straßen wie Schnee im Sommer. Wie oft brannten sie schon? War es Brandstiftung oder eine achtlos aus dem Fenster geworfene Zigarette?
Ein ausgebranntes Auto – keine Seltenheit, jede Menge Müll – Standard. Angefangen bei nächtlichen Treffs von jungen Männern, die Partys feiern, über Begegnungen mit Menschen, die sich in einem psychischen Ausnahmezustand befanden, bis hin zu Selbstmord – alles schon dort erlebt.
Eines warmen Sommertages kam ich mit drei kleinen Kindern aus dem Kindergarten. Wir wollten Eisessen im Moin Moin in Großziethen. Die Kinder freuten sich besonders darauf. Doch unser Nachmittag sollte anders verlaufen als geplant. Als wir zu unserem Auto kamen, das aufgrund von Parkplatzmangel in der Seitenstraßen ausnahmsweise einmal auf dem großen Parkplatz stand, wartete die Polizei bereits dort auf uns. Ich sah sofort, was geschehen war. An unserem Auto fehlten die Kennzeichen. Der Besitzer des Imbisses von nebenan hatte die Polizei informiert. Ein Auto ohne Nummernschilder war schließlich verdächtig. Na, musste ich immerhin nicht in der Wache anrufen. Die Polizei nahm gleich den Sachverhalt auf. Doch dann änderte sich die Stimmung und die Beamten stellten mir so merkwürdige Fragen. „Wo waren Sie am …?“ Ich wurde stutzig. Wurden im Film so nicht Tatverdächtige befragt? Hatte ich etwas verbrochen? Mir war doch schließlich etwas geklaut worden.
Ich schaute in meinem Kalender nach und konnte ihnen sagen, dass wir an diesem Tag von einem Ostseeurlaub zurückgekehrt waren. Zu besagtem Zeitpunkt waren wir daher gar nicht in der Stadt gewesen. Zum Glück reichte den Beamten diese Aussage. Auf meine Nachfrage hin erzählten sie mir, dass in einem Mordfall in Berlin nach einem dunklen Auto, das ausgerechnet unserer Marke entsprach, suchten. Da hier nun solch ein Auto ohne Nummernschild stand, hätte ja ein Zusammenhang bestehen können. Doch eine junge Mama mit kleinen Kindern aus Rudow passte offenbar nicht zu dem Fall. Nebenbei zeigten die Beamten meiner älteren Tochter, wie man Fingerabdrücke nahm und schenkten ihr ein Blatt mit ihren Abdrücken.
Ein anderes Mal – ich war gerade hochschwanger mit meinem zweiten Kind – ist uns am Rudower Parkplatz noch etwas Unglaubliches passiert. Wir gingen zum Auto, machten die Türen auf und setzten uns hinein. Ich bemerkte es sofort. Irgendetwas stimmte nicht. Zuerst dachte ich, mein Mann wolle mir einen schlechten Streich spielen. Er wirkte im ersten Moment verwirrt und ich glaubte, er spiele mir etwas vor. Doch offenbar hatte er – im Gegensatz zu mir – nicht gleich erkannt, was anders war.
„Warum hast du das Lenkrad ausgebaut?“, fragte ich. Erst jetzt schien er zu realisieren, dass das Lenkrad vor ihm fehlte. „Ich habe es nicht ausgebaut. Das wurde gestohlen.“
Innerlich hatte ich auf den Scherz gehofft, doch nun erschloss sich mir, dass wir ein Problem hatten. Ich war hochschwanger, jeden Moment hätten die Wehen losgehen können und wir hätten ins Krankenhaus fahren müssen. Wer tat so etwas einer schwangeren Frau mit einem kleinen Kind an? Denn der Kindersitz auf der Rückbank war ein eindeutiges Indiz dafür. Schnell schauten wir im Auto nach, ob noch etwas fehlte. Alles war wie immer, nur das Lenkrad fehlte. Auch an den Türen waren keinerlei Einbruchspuren zu sehen. Sie hatten es offenbar einfach nur auf das Lenkrad mit dem Airbag abgesehen.
Autorin: Ella Lane,
von den Rudower Tintenklexxer
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Rudow, meine Heimat!
Hallo, mein Name ist Viola S.-W. und ich möchte mich und meine Familie hier gerne einmal vorstellen, denn meine Familie väterlicherseits ist seit 1929 in Rudow zu Hause.
Meine Ur-Großeltern Rudolf und Gertrud L. haben am 30. September 1929 eine Parzelle vom Feld, das dem Landwirt Julius D. gehörte, für 2,90 Goldmark der Quadratmeter, abgekauft und bauten darauf ein Haus das 1932 fertig wurde. Am Anfang hieß der Weg vor der Tür "Straße 158", später "Entenschneise" und noch später dann "Kapaunenstraße". Am 1. Mai 1932 zogen sie mit ihrer Tochter Gerda, meine Oma die 1922 geboren wurde, nach Rudow. Sie hielten auf ihrem Grundstück Schweine, Gänse, Hühner, Ziegen, Kaninchen und auch Bieber. Diese wurden auch gegessen und das Fell weiterverarbeitet.
▲ Meine Ur-Oma mit ihren Hühnern ▲
Bei meinen Ur-Großeltern war immer was los, denn sie betreuten viele Pflegekinder. Ein Pflegekind, die kleine Anneliese, blieb bei ihnen und wuchs bei meiner Familie auf.
▲ Gertrud und Rudolf L. mit Tochter Gerda ▲ ▲ Gerda und die kleine Anneliese ▲
▼ Das Haus von meinen Ur-Großeltern ▼ ▼ Um das Haus sind nur Felder, jetzt ist es das Geflügelviertel in Rudow ▼
▲ Das Gartentor gab es bis Anfang der 90er ▲ ▲Meine Ur-Oma vor unserem Garten. ▲ Auf den Feldern hinter ihr steht heute u.a. der “Dörferblick“.
Im Juni 1940 hat meine Oma ihren Werner geheiratet und 1941 wurde mein Vater Manfred geboren und sie wohnten kurze Zeit im Ehrenpreisweg und dann bei meinen Ur-Großeltern mit im Haus.
Leider ist mein Opa Werner im Mai 1942 im Krieg gefallen und somit hatte mein Vater an ihn keine Erinnerungen.
Meine Oma konnte aus den Kriegsjahren vieles erzählen wie z.B. als die russischen Soldaten
über die Felder kamen und meine Oma, ihre Schwester Anneliese und mein Vater, der ja noch sehr klein war, sich auf dem Hausdach flach hinlegten und versteckten.
Meine Oma Gerda lernte später Gerhard M. aus dem Spreewald kennen und heiratete ihn im Oktober 1949. 1950 bekamen die beiden einen Sohn, meinen Onkel Axel und in diesem Jahr hatte auch mein Ur-Opa noch ein Stückchen Land vom Landwirt dazu gekauft. Somit wurde unser Grundstück größer.
Mein Vater wurde in den Ferien oft in den Spreewald zur angeheirateten Familie geschickt und brachte von dort mit 9 Jahren auch seine erste Brieftaube mit nach Hause. Mit dieser begann auch sein Lebenslanges Hobby, die Brieftaubenzucht.
Im August 1962 verstarb mein Ur-Opa Rudolf, im Februar 1975 meine Ur-Oma Gertrud und zwei Monate später mein Stiefopa Gerhard.
Meine Oma blieb mit ihrem jüngeren Sohn Axel in dem Elternhaus weiterhin wohnen. Später in den 80er Jahren lernte sie ihren neuen Lebenspartner Horst kennen, der dann auch bei ihr viele Jahre bis zu seinem Tod wohnte.
Als mein Vater im August 1962 meine Mutter Karin aus Kreuzberg kennen lernte und sie das erste Mal nach Rudow kam, dachte sie, sie ist schon in der Ostzone. Total ländlich. Im Februar 1963 haben die beiden geheiratet, zogen samt den ganzen Brieftaubenbestand nach Kreuzberg und im selben Jahr kam dann auch meine Schwester Martina auf die Welt.
1968 zogen die drei mit den Brieftauben dann nach Rudow in den Pfarrweg in ein kleines Häuschen mit großem Garten an der "Rudower Höhe".
▲ Unser Haus in der heutigen "Pfarrlandsiedlung"▲
Tja und dann kam 1970 ich auf die Welt. Hallo Rudow!
Ich hatte eine echt großartige Kindheit. So viele Nachbarkinder. Wir brauchten keinen Kinder-garten. Es war immer was los in unseren großen Gärten. Manchmal sind wir von Garten zu Garten gewandert und haben bei jedem Mal zu Hause gespielt. Oder auf der Straße, denn Autos kamen selten vorbei.
Wir hatten neben unseren Brieftauben auch Hühner, Kaninchen, Gemüsebeete und Obstbäume.
Man konnte so schön im Kirschbaum sitzen und herrlich süße Kirschen naschen.
1975 bekamen wir eines Tages einen Brief von der Rudower Kirche zugeschickt. Wir wohnten auf Pachtland, das der Rudower Kirche gehörte. In diesem Brief stand, dass wir alle unsere Häuser räumen und wegziehen sollten, denn es sollte darauf eine neue Siedlung gebaut werden (die heutige Pfarrlandsiedlung). Das war ein Schock für alle Anwohner.
1978 war es dann für meine Familie und mich so weit. Meine Eltern bauten auf dem hinteren Teil vom Grundstück meiner Ur- Großeltern ein Fertighaus in der Kapaunenstraße. Dort zogen wir vier dann im Sommer 1978 ein. Natürlich kamen unsere Brieftauben mit. Hühner hatten wir zu diesem Zeitpunkt keine aber die haben wir uns später wieder angeschafft.
Somit wohnte nun auf dem Grundstück meiner Ur-Großeltern schon mit meiner Schwester und mir die vierte Generation.
Das alte Haus von meinen Ur-Großeltern wurde 1979 abgerissen und meine Oma baute mit meinem Onkel auf dem vorderen Grundstück ebenfalls ein neues Haus.
Mein Onkel lernte in den 80er Jahren meine Tante Sibylle kennen und lieben. Sie zog zu ihm dann auch in das Haus. 1986 heirateten die beiden und bekamen zwei Kinder. Damit waren es schon vier Ur-Enkel meiner Ur-Großeltern.
Meine Schwester wohnt ebenfalls mit ihrem Mann und ihrer Tochter schon viele Jahre in Rudow.
Der Liebe wegen kehrte ich Rudow 5 Jahre den Rücken, kam aber 1997 mit meinem Kind in meinem Elternhaus zurück.
Mein Onkel, mein Vater und meine Oma (mit 97 Jahren) sind mittlerweile leider schon verstorben. Zusammen mit meiner Mutter, meinem Sohn, meinem Mann, meiner Tante und meinem Cousin lebe ich immer noch auf dem Grundstück meiner Ur-Großeltern Rudolf und Gertrud. Es ist mit meinem Sohn bereits die 5. Generation hier auf diesen Grundstück und wir hoffen das wir Rudow noch lange weiterhin unsere Heimat nennen dürfen.
▲2022 haben wir mit unseren Nachbarn zum 90-Jährigen Wohn-Jubiläum▲
eine kleine Party gemacht und am Gartenzaun dieses große Schild angebracht.
Meine Kindheit in den 70er Jahren in Rudow!
In den 70er Jahren haben meine Eltern, meine Schwester und ich ja noch an der Rudower Höhe im Pfarrweg gewohnt (heutige Pfarrlandsiedlung). Mein Vater war Taxifahrer und oft mit dem Auto unterwegs. Wenn wir dann in die Stadt wollten, mussten wir zum U-Bhf. Rudow laufen. Es fuhr nämlich noch kein Bus zum Dorfkern. Zwischen Neudecker Weg und Ostburgerweg gab es noch keine Häuser aber dafür ein riesiges Kornfeld. Auf diesem Feld gab es zwei lange Wege mit einer Kreuzung in der Mitte. Wir liefen vom Selgenauer Weg in das Feld bis zur Mitte und bogen dann nach rechts ab zum Neudecker Weg. Von da aus ging es weiter Richtung U-Bahn. Das ist schon lange her aber immer auch eine schöne Erinnerung vom Landleben in Rudow.
Der Winter auf der Rudower Höhe war immer toll. Damals gab es noch Meter hoch Schnee.
Rote Wangen, nasse Füße und laufende Nasen. Alles egal! Einmal unten mit dem Schlitten angekommen musste es auch gleich wieder hochgehen. Da wurde es uns auch schon wieder warm. Oft kam der Krankenwagen hochgefahren weil sich jemand das Bein oder den Arm gebrochen hatte. Ich war noch klein und traute mich nicht allein die große Piste runter. Nur mit meiner Mama, denn sie konnte gut den Schlitten lenken. An einem Wintertag waren Amerikaner mit ihrem Jeep auf dem Berg. Sie hatten Kinder mit ihrem Schlitten hinten ans Auto gebunden und gezogen. Ich wollte unbedingt auch mit meinem Schlitten an dieser langen Schlittenkette mich dranhängen aber meine Mutter hatte es mir verboten. Ich war mächtig sauer. Dann fuhr dieser Jeep einen steilen Berg hoch. Das sah nicht gut aus, eher sehr gefährlich denn der Jeep kam ins Rutschen und rutschte den Kindern auf ihren Schlitten entgegen. Der Fahrer hatte bestimmt selbst Blut und Wasser geschwitzt. Gott sei Dank konnte er den Jeep halten und es ist nichts passiert. Nun wusste ich warum meine Mutter mir das verboten hatte.
In der Lettberger- Ecke Neuhofer Straße stand in den 70er Jahren eine grüne Notrufsäule der Polizei.
Ich bin mit den Kindern aus der Nachbarschaft wieder mal unterwegs gewesen als wir an dieser Säule vorbei kamen. Die großen Kinder hatten mich überredet doch mal auf den Knopf der Säule zu drücken. Sie behaupteten, dass es nicht schlimm ist und mir nichts passieren würde. Gutgläubig wie ich nun mal war, habe ich dann den Notrufknopf betätigt und bekam einen riesigen Schreck. Es kam nämlich prompt eine Stimme, die sagte: "Polizeinotruf, Abschnitt 57 (so hieß glaube ich der Abschnitt damals) wie kann ich Ihnen helfen?" Ich hatte einen riesigen Schreck bekommen, zumal die anderen Kinder lachend wegrannten. Dann kam: "Hallo? Wer ist denn da?" Ich dachte nur: "Oh mein Gott, ich komme dafür ins Gefängnis" und rannte dann wie um mein Leben.
Meine Schwester, ihre Freundin, zwei Jungen aus der Nebenstraße, mein Cousin Carsten und ich waren an der Rudower Höhe spielen. Wir waren unten am Teich und spielten am Wasser. Wir rannten immer einen Hang herunter an dem am Ende unten eine Kante direkt am Teich war und schmissen Sand in das Wasser. Es war sehr gefährlich, was wir da machten, denn an dieser Stelle war der Teich ziemlich tief. Also nichts für kleinere Kinder. Carsten und ich waren ca. 6 Jahre und der eine Junge schon 13. Meine Schwester war auch in diesem Alter, war aber auf der anderen Seite vom Teich hinter dem Schilf mit ihrer Freundin.
Wir vier rannten also diesen Hang immer wieder runter, stoppten und warfen Sand hinein. Dann kam Carsten wieder runter gerannt, konnte aber nicht mehr bremsen und viel mit seiner Winterjacke in den Teich. Er ging sofort unter. Ich war so erschrocken und fragte mich warum er das nur gemacht hat. Ich war ja auch noch klein und total überfordert. Da griff der 13jährige Junge meinen Cousin an der Jacke und zog ihn wieder raus. Carsten hatte riesiges Glück gehabt. Der Junge hatte ihm das Leben gerettet!
Mein Onkel und meine Tante haben ihn zum Dank seinen größten Wunsch erfüllt. Er bekam einen Ferngesteuerten Truck und es gab einen Bericht in der Zeitung.
Wir Kinder aus der Siedlung waren wie die Orgelpfeifen, spielten zusammen und hatten viel Spaß. Wir wussten das ein Nachbar Kupfer ankauft und so sind wir, als wir mal Kupfer gefunden hatten, mit unserer Beute zu diesen Nachbarn gegangen. Der hat dann jedem seine “Ware“ abgekauft. Ich weiß noch das ich für meine Spule 20 Pfennig bekommen habe. Wahrscheinlich viel zu wenig, aber ich hatte mich gefreut. Wir legten unser Geld dann alle zusammen und sind zum Lebensmittelladen "Fettke" im Kalmanweg geflitzt, um uns Süßig-keiten zu kaufen. Die haben wir uns dann alle Brüderlich geteilt.
In einem Sommer in den 70er Jahren hatte ich gerade wieder draußen mit den Kindern gespielt als ein Kind kam und erzählte, dass Neuhofer Straße Ecke Schirpitzer Weg, auf der großen Wiese die es damals noch gab, was passiert sein muss. Es waren mehrere Krankenwagen dort hingefahren. Neugierig wie Kinder nun mal sind, rannten wir alle los um nach zu sehen was da passiert ist. Tatsächlich war da das Chaos ausgebrochen. Überall lagen verletzte Menschen mit Kunstblut beschmiert herum und schrien vor den nicht vorhandenen Schmerzen. Es war eine Übung der Feuerwehr. Das hatte ich aber nicht gewusst. Ich hielt alles für echt und war auch echt erschrocken. Wir waren ja auch mitten im Geschehen. Heute nennt man das "Gaffer". Vor mir lag ein "blutender Patient" der versorgt werden musste. Dieser Patient hatte eine Infusion bekommen und ich wurde gefragt ob ich mal die Infusionsflasche halten kann. Ich hatte mit meinen ca. 6 Jahren Angst was falsch zu machen, verneinte und rannte völlig geschockt nach Hause. Später habe ich dann erfahren das es nur eine Übung war.
Übung muss ja sein aber bitte ohne mich!
Pfarrweg Ecke Künnekeweg hatte ein Anwohner aus der Nebenstraße ein Lager für Baustoffe. Ich war ungefähr sieben Jahre alt und hatte gehört, dass das Lager auch bald abgerissen wird, da wir ja alle von dem Gelände der Kirche runter sollen. Ich hatte wieder mal mit meinem Cousin Carsten, der fast jedes Wochenende bei uns zu Besuch war, und meinem Freund Pipe aus der Nachbarschaft gespielt. Ich kam auf die blöde Idee: "Mensch, das soll sowieso bald abgerissen werden! Kommt wir helfen denen ein bisschen und schmeißen schon mal die Fenster ein!" Wir sind unter dem Zaun durch und haben mit Steinen und allem, was wir greifen konnten, die Scheiben eingeschmissen. Natürlich blieb das nicht unbemerkt. Ein Nachbar gegenüber hat uns dabei beobachtet. Damit der Nachbar uns nicht wiedererkennt hatte ich die schlaue Idee die Jacken zu tauschen. Also tauschten wir drei unsere Jacken und waren uns sicher man erkennt uns nicht mehr wieder. Dann liefen wir wie selbstverständlich an diesem Nachbarn vorbei, grüßten ihn freundlich und gingen nach Hause.
Ein paar Tage später saß ich auf einem Stromkasten im Künnekeweg und sah wie der Besitzer von dem Baustofflager in Richtung mein zu Hause direkt an mir vorbei marschierte. Ich hatte natürlich die Hosen voll weil ich mir denken konnte wo der jetzt hingehen wollte. Meine ältere Schwester Martina kam mit ihrer Freundin an mir vorbei und ich erzählte ihr vom Nachbarn und dass ich mich nicht nach Hause traue da ich was angestellt habe. Meine Schwester sagte mir ich soll ruhig nach Hause gehen. Das habe ich aber erst gemacht als der Nachbar dann wieder weg war. Natürlich habe ich mächtig was von meinem Vater auf den Hintern bekommen. Danach sagte er zu mir, wenn ich schon scheiße baue, dann soll ich mich wenigstens nicht erwischen lassen.
Meine Grundschulzeit in den 70er Jahren!
Wenn ich an meine Grundschulzeit in der Matthias-Claudius-Schule denke, fallen mir einige Geschichten ein. Schöne, aber auch nicht so schöne. Nicht schön waren die Hänseleien von den Kindern und von einem Lehrer. Da ich schon immer sehr groß war wurde ich zuhauf u.a. als “Langer Lulatsch“ bezeichnet. Sprüche wie z.B. "Wie ist die Luft da oben?" und so weiter gab es fast täglich. Als Kind fand ich es furchtbar.
Die schönen Geschichten sind z.B. die von der Weihnachtszeit.
In der Halle vor dem Schulbüro hing ein riesengroßer Adventskranz. Wenn ich Montags in die Schule kam und sah dass wieder eine Kerze mehr brannte, dann wusste ich das bald der Weihnachtsmann kommt. Wie habe ich die Vorweihnachtszeit in der Schule geliebt. Das singen, das Basteln und die Vorfreude sind mir bis heute noch in Erinnerung geblieben. Am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien haben wir mit der Klasse zusammen gefrühstückt. Jeder sollte sich was zu essen, zu trinken, eine Kerze und eine Serviette mitbringen. Dann wurde das Licht ausgemacht und wir haben es uns schmecken lassen. Es wurde zusammen gesungen und Geschichten vorgelesen.
Wenn ich heute noch so daran denke wird es mir ganz warm ums Herz!
Die Faschingszeit war auch immer klasse! Obwohl ich an einem Aschermittwoch geboren wurde, an dem ja alles vorbei ist, liebe ich es Fasching zu feiern. An jedem meiner Geburtstage wurde Fasching gefeiert. Zu Hause mit Familie und den Nachbarn und in der Schule natürlich mit meinen Schulkameraden. Meine Mutter kann Akkordeon spielen und hatte sich einmal in der Schule für die musikalische Unterhaltung zur Verfügung gestellt. Alle Schüler der Schule sollten eine Polonaise durch die ganze Schule machen und meine Mutter mit ihrem Akkordeon vorneweg. Sie fing das Lied "Kreuzberger Nächte sind lang", das zur Zeit der absolute Hit war, zu spielen an. Alle Kinder sangen den Refrain "Kreuzberger Nächte sind lang" immer und immer wieder von vorne an. Meine Mutter hatte vorher Lieder geprobt und wollte gerne auch mal etwas anderes spielen. Sie hatte aber keine Chance, denn die ganzen Schulkinder von der gesamten Schule sangen immer wieder „Kreuzberger Nächte sind lang, ChaChaCha". So kann man Kinder auch glücklich machen!
Im Sommer haben wir jeden Tag gehofft, das wir hitzefrei bekommen. Auf dem Fensterbrett vom Schulbüro wurde ein Thermometer in Schatten gestellt und wenn es um 10 Uhr 25° Grad warm war dann gab es hitzefrei. Eines Tages dachte ich mir, da muss man doch mal ein bisschen nachhelfen. Also schlich ich mich in der 1. großen Pause um 9:30 Uhr unter das Fenster, mopste das Thermometer und hauchte es ordentlich an. Etwas über 25° Grad sollte reichen, dachte ich mir und stellte es wieder zurück. Stolz ging ich auf den Schulhof zurück und prahlte, dass wenn wir hitzefrei bekommen, dann nur wegen mir. Aber irgendwie hatte es nicht geklappt, denn das Thermometer ließ sich nicht beschummeln. Die Temperatur ging wohl schnell wieder runter und dadurch mussten wir brav unseren Unterricht bis zu Schluss durchziehen. Mist!
In der Prierosser Straße gab es damals eine Eisdiele, in der heute der Futterladen drin ist. Ich ging noch in die Grundschule. Mit zwei Klassenkameraden ging ich zur Eisdiele und wir hatten ein Riesenglück. Die Gefriertruhe vom Eisverkäufer war defekt und er fragte uns, ob wir nicht umsonst so viel Eis essen wollen wie wir es schaffen, denn sonst muss er das ganze Eis wegschmeißen. Das haben wir uns nicht zweimal sagen lassen. Wir haben so viel Eis gegessen, bis wir nicht mehr konnten und das für umsonst. Das hat man nicht alle Tage.
Veranstaltungen in Rudow!
Anfang der 80er Jahre wurde auf dem Mettefeld, gegenüber dem Friedhof am Ostburger Weg, ein Schweinewettrennen veranstaltet. Das war ein Spaß für die Rudower. Es wurden zwei gleiche Bahnen mit verschiedenen Hindernissen aufgebaut. Eine Bahn war für das Schwein und die andere Bahn für freiwillige Mitläufer. Da auch Alkohol ausgeschenkt wurde war der ein oder andere auch nicht mehr ganz nüchtern. Da war das Lachen schon vorprogrammiert. Auf die Plätze, fertig, los! Die beiden "Läufer" mussten über mehrere Strohballen springen hinter denen Matschpfützen angelegt wurden.
Ich erinnere mich, dass ein nicht mehr ganz nüchterner Mann mit einem Tiroler Hut das Schwein herausforderte. Er rannte los, neben ihm das Schwein. Das Schwein sprang galant über die Strohballen, über die Suhle Pfütze und direkt ins Ziel. Der Mann flog über den Strohballen und fiel mit einem Bauchklatscher direkt in die Schlammpfütze. Man konnte ihn nicht mehr sehen aber sein Hut schwamm obendrauf. Die Leute haben sich gekrümmt vor Lachen. Das war ein unvergessener schöner Nachmittag!
Ende der 90er Jahre fand vor dem Profiradrennen in Rudow ein Radrennen für Jedermann statt. Jeder der Lust hatte konnte sich anmelden und ein Radrennen fahren. Meine Mutter hatte ich überredet den Spaß mitzumachen und so meldeten wir uns, mit meinem zweijährigen Sohn im Kinderfahrradsitz hinter mir, an. Außer uns drei waren noch zwei Jugendliche mit dabei. Mehr Mitstreiter hatten sich nicht gefunden. Die Leute lachten und aus der Nummer kamen wir nicht mehr raus. Wir stellten uns bei der Feuerwehr an der Startlinie auf und warteten auf den Startschuss. Mein Sohn hatte Gummistiefel an und diese waren festgeschnallt. Es sah lustig aus als er seine Füße aus den Stiefeln rausholte und links und rechts mit diesen wedelte. So sehen Radrennfahrer in Rudow aus. Die Strecke führte über den Neudecker- und Selgenauer Weg, in die Köpenicker-, Prierosser- und Krokusstraße und zurück über Alt-Rudow bis zur Feuerwehr. Der Startschuss kam und wir fuhren in Richtung Neudecker Weg los. Im Neudecker Weg musste ich schon auf meine Mutter warten. Sie konnte nicht so schnell fahren und wir wollten zusammenbleiben. Die beiden Jugendlichen waren schon nicht mehr zu sehen. So unsportlich wie wir waren kürzten wir ein bisschen die Runde ab und kamen direkt von der Köpenicker Straße in Alt-Rudow als Letzte am Ziel an. Das hatte aber keiner mehr bemerkt denn das Profiradrennen war schon im vollen Gange.
Taubensport ist auch Sport!
Mein Vater Manfred Ch. ist auf dem Grundstück von seiner Oma und Opa mit seiner Mama groß geworden. Mit neun Jahren hatte er heimlich eine Brieftaube von den Spreewaldferien mit nach Berlin Rudow gebracht. Er wollte Brieftauben züchten und in einen Brieftaubenverein ein- treten. Das wollte jedoch seine Mutter nicht. Er ging aber trotzdem heimlich zum Rudower Verein "Gut Flug". Die Vorsitzende fragte immer wieder nach der Unterschrift seiner Mutter, denn er war ja noch minderjährig. So musste er sich was einfallen lassen und fälschte eines Tages die Unterschrift seiner Mutter und war seit 1950 im Verein "Gut Flug".
Jetzt drehte sich alles nur noch um Tauben. Da wurden Tauben gepaart, die Babys mit den Taubeneltern zusammen groß und Ringe aufgezogen, erste Flugversuche beobachtet, später zum ersten Trainingsflug nach Wannsee gefahren, sie raus gelassen und sich gefreut, wenn alle wieder zu Hause ankamen.
Dann wurden die Besten ausgesucht und zum Wettflug geschickt. Das Weiteste war Belgien. Was haben wir später mitgefiebert wenn die Tauben nach Hause kamen, denn wer seine Tauben als Erster zu Hause hatte gewann. Und das jedes Wochenende von Frühjahr bis Herbst. Im Winter gab es dann die Preisverteilungsfeier. Da gab es Pokale und Urkunden. Das beste Weibchen, den besten Vogel, die besten Jährigen, die besten Schnellsten usw.
Das große Ziel war immer 1. Vereinsmeister oder RV-Meister (Regionalverband) zu werden.
Mein Vater hatte immer gesagt, wenn er einmal 1. Vereinsmeister wird, dann macht er eine große Party, bestellt einen Spielmannszug und läuft mit diesem und seinen Gästen durch die Straßen in Rudow.
1999 war es dann so weit. Er wurde 1. Vereinsmeister. Meine Mutter erinnerte ihn an diesen Spielmannszug und meinte, jetzt muss er es aber auch machen. Also organisierten meine Mutter und ich einen Spielmannszug und planten mit meinem Vater eine große Party. Es wurde der ganze Verein, die gesamte große Familie und die Nachbarn eingeladen. Wir hatten auch eine Kutsche bestellt. An den Seiten der Kutsche hingen wir Schilder an, auf denen "Telebus" drauf stand. Auf dieser durften dann die Kinder und die älteren Gäste, die nicht gut zu Fuß waren, mitfahren. Alle Gäste bekamen Laternen in die Hand gedrückt und dann ging es los. Die Kutsche fuhr langsam mit den alten und jungen Generationen vorneweg, gefolgt vom Spielmannszug, der es ordentlich krachen ließ. Mein Vater und meine Mutter liefen dahinter mit einem großen Schild “1. Vereins Meister 1999“, gefolgt von den Gästen die brav ihre Laternen schwenkten. Die Kapaunenstraße runter, in den Geflügelsteig, Wassmannsdorfer Chaussee, Kückenweg und wieder in die Kapaunenstraße zurück. Die Leute standen alle an ihren Gartenzäunen und schauten nicht schlecht. Der BVG-Bus musste langsam hinterher fahren da wir die gesamte Straße eingenommen hatten. Als wir dann wieder zu Hause angekommen sind wurde dann inklusive Spielmannszug kräftig gefeiert.
▼ Meine Eltern und links meine Oma Gerda ▼ ▼ Der Spielmannszug ▼
▼ Der “Telebus“ ▼
Willi ist der Beste!
Anfang der 2000er Jahre haben wir fünf Jahre lang mit unseren Hahn Willi beim Rudower Hähnewettkrähen der Eigenheim- und Grundbesitzer Rudow e.v. mitgemacht. Irgendwie haben sich die anderen Hähne-Besitzer nicht gefreut, wenn wir mit Willi zum Wettkampf kamen, denn die Chancen auf den 1.Platz waren nicht so groß wenn der Konkurrent Willi da war. Willi hatte zu Hause gar nicht so oft gekräht, aber wenn es darauf ankam, dann legte er los. Welcher Hahn in 45 Minuten am meisten kräht gewinnt. Willi gewann jedes Mal den ersten Platz. 2001 mit 123 x, 2002 mit 110 x, 2003 mit 88 x, 2004 mit 101 x und das letzte Mal 2005 mit 88 x krähen.
Wir denken heute noch gerne an ihn zurück, denn Willi war einfach der Beste!
▼Wanderpokal von Willi▼
“Den hälste fest!“
Ich war damals lange eine alleinerziehende Mutter. Die Computerzeit fing an und ich habe versucht über das Internet jemanden kennen zu lernen.
Da ich lange bei Woolworth in Rudow gearbeitet hatte, kannten mich auch viele Kundinnen. Hatte ich dann ein Blind-Date mit einem Mann, kam doch gleich eine Kundin um die Ecke und grüßte mich, schaute den Herrn am Tisch an und lächelte. Ich dachte nur "Oh mein Gott, hoffentlich denkt sie nicht der gehört zu mir!" - da war mir schon klar, dass dieser Herr nicht mein Typ ist. Da sich dieses Spiel mehrmals wiederholte, traf ich mich bei jedem Date mit dem nächsten Kandidaten in einem anderen Restaurant in Rudow. Frau muss ja auf ihren Ruf achten! Nun hatte ich schon alle Gaststätten in Rudow durch und traf mich mit dem nächsten Herrn bei MCDonalds in der Rudower Straße. Ja ich weiß, es ist nicht sehr romantisch aber wie gesagt, Frau muss auf ihren Ruf achten. Auf dieses Treffen folgte das erste Mal ein 2. Date.
Das 2. Treffen war eine Woche vor Heiligabend 2007. Mein Vater meinte: „Na mal sehen, ob es heute funkt!“ Der Herr und ich haben uns an einem Sonntag um 14 Uhr im "Cafe am Markt", das neben der ehemaligen Post in der Prierosser Straße war, getroffen. Wir hatten viel und lange geredet.
Irgendwann schaute er auf die alte Dorfkirche und sagte: "Ach, Rudow ist ja auch schön! Hier kann ich es mir auch vorstellen zu leben!" Ich, die mal 5 Jahre heiratsbedingt Rudow den Rücken kehrte aber wieder zurückkam und nie mehr aus Rudow weg wollte, dachte mir gleich: "Den hälste fest!"
Nach 4 Stunden reden sagte uns die Kellnerin, dass sie gerne Feierabend machen möchte.
Tja, was soll ich sagen? Mein Sohn sagte zu meinem Vater: " Opa, es hat geblitzt!"
Den Herrn, der übrigens Burkhard heißt, habe ich festgehalten, ihn 2015 geheiratet und wir wohnen zusammen auf dem Grundstück von meinen Ur-Großeltern.
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Umzug nach Rudow
1982 wurde unser Herzenswunsch wahr und wir zogen aus Britz in unser Eigenheim in diesen beschaulichen idyllischen Zipfel von Rudow, der eingebettet von der Berliner Mauer, der Rudower Höhe und dem Ausstellungsgelände von Eternit lag. In den zwanzig Häusern, die sich in unserer Straße befanden, lebten schon junge Familien, so fiel es uns nicht schwer, einen herzlichen Kontakt aufzubauen und wir fühlten uns gut aufgehoben. Die Kinder liebten ihren auf und um der Rudower Höhe befindlichen großen Naturspielplatz und auch wir erklommen gerne den siebzig Meter hohen und noch karg bewachsenen Berg. Unsere Blicke schweiften über viele freie Flächen, Gartenkolonien, den Todesstreifen und auf die in der Ferne aufblitzenden Baukräne. Der neben der Rudower Höhe und der Mauer befindliche Trampelpfad führte uns über Stock und Stein und an den Überbleibseln eines in den fünfziger Jahren stillgelegten Friedhofes vorbei zum Grenzweg. Da wir auf Du und Du mit der geschichtsträchtigen Berliner Mauer lebten, konnten wir aus einem Kinderzimmerfenster auf einen Wachturm blicken und das Treiben auf dem Todesstreifen beobachten. Bei Spaziergängen über den Grenzweg begegneten uns ab und zu die Patrouille fahrenden Amerikaner in ihren Jeeps oder Panzern, die aber immer zur Freude der Kinder Süßigkeiten für sie parat hatten. Obwohl, wenn ich ehrlich bin, ist mir mein Herz, aufgrund des rasselnden Fahrgeräusches hinter meinen Rücken und der Anblick der bewaffneten Amerikaner auf dem Panzer, in die Hose gerutscht.
Drei Dinge gingen uns ruck zuck in Fleisch und Blut über: habe die Gummistiefel immer griffbereit – da der Glashütter Weg und der Neudecker Weg bis zur Ecke Lettberger Straße / Am Bauernbusch unbefestigte Straßen waren und sich bei Regenwetter in eine Schlammwüste verwandelten. Nach Umfahren bzw. Umlaufen der an dieser Stelle befindlichen Halbschranke betraten wir wie von Zauberhand wieder festes, gepflastertes Straßenland. So mancher Taxifahrer, der uns zu später Stunde nach Hause fuhr, umklammerte nach dem Umfahren der Halbschranke blitzartig den Alarmknopf, obwohl wir ihnen versicherten, dass wir nichts Böses im Schilde führten, sondern wirklich nur in unser abgelegenes Nachhause möchten.
Punkt zwei: Vergesse nie rechtzeitig den Pumpwagen zu bestellen, damit die Sickergrube geleert wird und sich keine unliebsame Überschwemmung über den Rasen ausbreitet.
Aber die größte und nervigste Aufgabe war immer wieder, erklären zu müssen, wie unsere Besucher, die Taxifahrer und sogar der Feuerwehrbesatzung, mit der ich als Lotse direkt verbunden wurde, den Weg in unseren Abschnitt des Glashütter Weges fanden. Denn aus unerklärlichem Grund hieß nicht nur unser kleines Stück Glashütter Weg, sondern auch die nicht verbundenen Straßenzüge zwischen Lettberger Straße und Selgenauer Weg und zwischen Am Espenpfuhl und Deutschtaler Straße. Nach erfolgloser Hin- und Rückfahrten durch dieses Straßenlabyrinth scheiterten viele an der Halbschranke, fühlten sich veräppelt und gaben ihr Vorhaben auf.
Für unsere Stadtkinder, aber auch für die Erwachsenen, war die Ansiedlung des Bauern Mendler Ende 1982 ein Highlight. Nicht nur die Tiere waren ein Anziehungspunkt, sondern auch der kleine Hofladen. Bewaffnet mit den neu erworbenen Milchkannen, begleitet von meinen Kindheitserinnerungen, spazierten oder radelten wir zwei – bis dreimal in der Woche zum Bauernhof, um Milch, Butter, Eier und hin und wieder Aufschnitt einzukaufen.
Eines Tages flatterte uns Anwohnern eine Zahlungsaufforderung ins Haus und wir hielten es für einen Aprilscherz, obwohl es nicht im entferntesten April war. Die Begründung lautete: Da die Rudower Höhe keine Grünanlage von überregionaler Bedeutung sei, wären Sie verpflichtet gemäß dem Erschließungsbeitragsgesetz, sich anteilmäßig an den Kosten zu beteiligen. Zu unserer Erleichterung konnten wir dank vieler Recherchen, Unterschriftsammlungen und dem Zusammenschluss mit einem Anwalt dieses Anliegen erfolgreich widerlegen.
Silvester strömten wir kurz vor Mitternacht in Begleitung mit gefühlt hunderten anderen Menschen auf den höchsten Punkt der Rudower Höhe, um von dort das weit über Berlin leuchtende phantastische Feuerwerk ungestört genießen zu können und auf ein glückliches 1983 anzustoßen.
Autorin Rita Göritz
von den Rudower Tintenklexxer
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Geschichte über eine besondere Rudowerin
Frau Christa Marten oder Änderung meines Blickwinkels
Sie war die dickste Frau, die ich bis zu diesem Zeitpunkt – Mitte der siebziger Jahre – jemals gesehen hatte. Der Wohlstand wuchs unaufhörlich und mit ihm der Umfang der Menschen beiderlei Geschlechts – aber soo massige Frauen traf man in den 70er Jahren noch nicht häufig – jedenfalls nicht hier in Rudow. Nicht einmal die Bekleidungs-industrie schien breitflächig auf solche Größen eingestellt, denn sie trug zumeist riesige selbst gehäkelte Pullunder über weiten – sicher auch für sie persönlich genähten – Hosen.
Ich begegnete ihr erstmals zur Feier der Amtseinführung unseres neuen Pfarrers Herrn Nitsch. Nicht nur Rudower waren gekommen, auch etliche seiner alten Gemeindeglieder.
Der Gemeindesaal war gut gefüllt, wir hatten mit Müh' und Not gerade noch zwei Plätze an dem Tisch bekommen, an dem sie – die uns bisher Fremde – schon saß. Ich vermutete, dass sie aus Herrn Nitschs Kreuzberger Gemeinde stammte, denn er kannte und begrüßte sie sehr erfreut, als er an unseren Tisch trat, um sich persönlich vorzu-stellen und unsere Namen zu erfragen. Ihren erfuhren wir dabei von Herrn Nitsch, der sie uns als die Gründerin und Schulleiterin der Evangelischen Schule in der Mainzer Straße vorstellte, deren sehr guten Ruf man ja sogar hier am Stadtrand kannte.
Ich war baff! Die Leiterin dieser begehrten Schule hatte ich mir anders vorgestellt – gewandt und auf jeden Fall viel eleganter – eben im Look einer Karrierefrau – schließlich waren Schulleiterinnen in dieser Zeit noch nicht so dicht gesät und zu den Waffen einer Frau, die im öffentlichen Leben Karriere machen will, gehört neben Eloquenz noch immer ein gediegenes Aussehen. In ihrem Fall schien das nicht zu stimmen.
Von nun an traf ich Frau Marten häufiger bei Gemeindeveranstaltungen, die Herr Nitsch leitete, denn sie gehörte, in der Raduhner Str. wohnend, zu unserer Gemeinde. Erst später erfuhr ich, dass sie qua ihres Amtes ein hoch geachtetes Mitglied im Kreiskirchen-rat und der Synode war und sich die beiden schon länger aus diesen Gremien kannten und schätzten.
Als ich Frau Christa Marten näher kennenlernte, konnten ich gar nicht anders, als sie ebenfalls sehr zu bewundern. Wenn sie redete, wurde klar, was für eine tolle Frau man vor sich hatte: Eine Christin und Demokratin allererster Güte – gebildet, kompetent, humorvoll, mit einem klaren Blick auf diese Welt und durchdrungen von der Liebe und Achtung für die ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen und natürlich auch ihr Kollegium.
In einer Festschrift zum 70jährigen Schuljubiläum kann man in etlichen Interviews ehemaliger Schüler und Kollegen lesen, dass sie als Schulleiterin nahbar und unnahbar zugleich war. Sie verlangte unbedingten Gehorsam gegenüber den bestehenden Schulregeln, half aber engagiert und – wenn es sein musste – auch sehr unkonventionell. Wer sich nicht an ihre Regeln hielt – seien es Kinder, Eltern oder Erzieher – dem legte sie kompromisslos nah, die Schule zu wechseln.
Ihre Schüler konnten sich darauf verlassen, dass sie alles daransetzte, ihnen eine Chance im Leben zu verschaffen, aber ebenso verlässlich verlangte sie von ihnen, sich selbst in die Pflicht zu nehmen. Hätscheln war nicht ihr Ding – Unterstützen so viel es ging, aber schon. Fördern und Fordern – nach diesen beiden Eckpunkten der Pädagogik handelte sie. Es war ihr Ehrgeiz, möglichst keinen Schüler ohne Ausbildungsplatz zu entlassen. Keiner sollte auf der Strecke bleiben. Dafür nutzte sie alle Verbindungen und knüpfte bei Bedarf auch neue.
Äußerlichkeiten spielten für sie keine Rolle, Achtung und Mitmenschlichkeit aber schon. Das kam gut an bei ihrem Kollegium, den Eltern und auch den Schülern. Frau Marten war ganz eindeutig eine Respektsperson.
Anlässlich der Erstellung der Festschrift – Frau Marten war schon einige Jahre zuvor verstorben – wurde ihre jüngere Schwester befragt. Dabei erfuhren wir aus ihren Erzählungen, dass Christa Marten schon immer einen großen Hang zur Mathematik, den Naturwissenschaften, sowie zu Sprachen und der Literatur besaß und dass sie aus einem zutiefst vom christlichen Glauben geprägten Elternhaus stammten.
Im zweiten Weltkrieg zur Lehrerin ausgebildet, unterrichtete ihre Schwester sie und ihren jüngeren Bruder sogar zusammen mit evakuierten Berliner Kindern, weit außerhalb von Berlin und führte sie couragiert alle nach dem Kriegsende zurück zu ihren Eltern nach Berlin.
Aufgrund ihrer Erfahrungen im Dritten Reich kam Frau Marten zu der Überzeugung, dass der Staat kein Erziehungsmonopol besitzen dürfe. Deshalb plante sie eine christliche Privatschule zu gründen. Wiederum voller Gottvertrauen und gegen alle Widerstände, die sich ihr in den Weg stellten, wie Kriegszerstörung, materielle Not, politische Wirren, Währungsreform und Blockade sowie die ablehnende Haltung der Politik gegenüber Privatschulen, aber mit wohlwollender Unterstützung der westlichen Alliierten, setzte sie ihre Erkenntnis um und eröffnete 1948 im Arbeiterbezirk Neukölln die Evangelische Privatschule in der Mainzer Straße. In dieser – ihrer Einrichtung – wollte sie junge Menschen zu freiheitlich und demokratisch denkenden und handelnden Menschen erziehen, um sie zu befähigen, sich einem Menschenbild und einer Weltsicht, wie sie im Dritten Reich geherrscht hatten, entschieden widersetzen zu können. Das geistige Rüstzeug dazu sollten sie an ihrer Schule durch die Vermittlung christlicher Werte wie Verantwortungsgefühl, Nächstenliebe, Toleranz und Gottvertrauen gewinnen. In Berlin wurden damals noch vier weitere evangelische Schulen gegründet. Frau Martens Schule aber zeichnete sich dadurch aus, dass sie sich als einzige ganz bewusst allen Schichten öffnete, indem sie es nicht bei der Beschulung der 6 bis 12jährigen Grundschulkinder beließ. Schon sehr bald wurde die Schule nämlich um einen „Praktischen“ und einen „Technischen“ Zweig erweitert – wir nennen das heute Haupt– und Realschule. Somit unterschied sich Frau Martens Einrichtung von den etwas „elitäreren“ anderen Evangelischen Schulen Berlins, die keine Hauptschüler beschulten. Frau Marten aber war es wichtig, dass gerade die Kinder, die sowohl aus finanziell, als auch geistig ärmeren Bevölkerungsschichten stammten, besondere Zuwendung und Unterstützung bekamen, um ihren Platz im Leben außerhalb von Universitäten und anderen gehobenen Laufbahnen zu finden. Arbeiter zu sein, ist schließlich kein Makel, sondern neben der Bildung ein weiterer Fels, auf dem eine Gesellschaft steht.
Erst 1956 konnte endlich ein Schulhaus eingeweiht werden. Bis zu diesem Zeitpunkt unterrichten die Lehrer an verschiedenen Orten, in der Genezarethkirche, an der Schillerpromenade und in einer Baracke in der Schierker Straße. Dennoch – und obwohl sogar ein Schulgeld erhoben wurde – übertrafen die Anmeldungszahlen regelmäßig die Anzahl der zu vergebenden Schulplätze.
1975 konnte Frau Marten einen weiteren Plan verwirklichen. Ihre Schule wurde in eine dreizügige integrierte Gesamtschule umgewandelt mit dem Ziel, die Schüler von der ersten Klasse bis zum Abitur führen zu können. Im Unterschied zu den festen "Zweigen" gab es jetzt das Kurssystem FEGA, welches den Schülern ermöglichte, in den Basis-fächern je nach Lernstand und Begabung gefördert zu werden und dadurch unterschiedliche Qualifikationen zu erreichen, ohne die Schule wechseln zu müssen. Die Weiterführung nach Klasse 10 aber verhinderten wieder einmal Finanz– und Raumprobleme. Schulabgänger mit der Befähigung zur Oberstufe mussten nach der zehnten Klasse weiterhin auf andere weiterführende Schulen wechseln. Erst im Jahr 2003 ergab sich die Möglichkeit – wiederum in Räumen der Genezarethgemeinde – eine Oberstufe einzurichten. Frau Marten hat diese Eröffnung nicht mehr erlebt.
Als sie 1985 aus dem Amt schied, führte das Kollegium aus Dankbarkeit für ihre Lebensleistung eine grandiose Schau auf über ihre Zeit als Gründerin und Leiterin der Schule. Damit neben möglichst vielen Wegbegleitern auch alte Kollegen, ehemalige SchülerInnen und Eltern durch ihre Teilnahme an dieser Veranstaltung Frau Marten ebenfalls ihre Achtung und Dankbarkeit ausdrücken konnten, wurde der Konzertsaal der Hochschule für Musik in der Hardenbergstraße gemietet. Schier endlos war der Beifall für das Kollegium nach der Show, aber noch beeindruckender die nicht minder langen Standing Ovations, die Frau Marten am Beginn der Veranstaltung galten. Ich war dabei!
Frau Marten war kein langer Ruhestand vergönnt. Als sie sich aus der Schulleitung zurückzog, war sie eine schwerkranke Frau: Diabetes, Herzschwäche, eine angegriffene Lunge, sie war – wie ganz viele Menschen damals – eine starke Raucherin. Schließlich verursachte sie noch einen Autounfall in Folge eines Kreislaufproblems, der eigentlich als Bagatelle einzustufen war, ihr letztlich aber mehr zusetzte, als alle ihre körperlichen Beeinträchtigungen, weil die Rettungssanitäter und das Personal auf der Unfallstation des staatlichen Krankenhauses sie – aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes – mit spürbarer Verachtung behandelt hätten. Da war sie nicht mehr die Frau Marten, die kompetente und geachtete Schulgründerin und Rektorin, nicht ein Mensch in Not, sondern nur noch eine dicke, alte, bewegungsgehemmte, kranke Frau, die ihnen Arbeit machte.
Meine erste Reaktion war Empörung, dann aber fiel mir unsere erste Begegnung ein und ich konnte plötzlich diese Menschen nicht mehr nur verdammen. Beschämt musste ich mir eingestehen, dass ich – ohne sie „von innen“ zu kennen – vielleicht auch weniger Verständnis und Achtung für sie gezeigt hätte. Durch sie lernte ich, mich nicht vom Äußeren blenden oder verschrecken zu lassen. Ich sehe seither genauer hin und dafür bin ich ihr zutiefst dankbar.
Autorin Heide Binner,
von den Rudower Tintenklexxer